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waren, und keiner von ihnen trennte sich vom anderen, nicht einmal, um aufs Klo zu gehen. Ein Kazike, der schon seit einem Jahr im Knast saß, besorgte Chi mal einen Eisenspieß. Ein anderer steckte ihm unterm Tisch drei Amphetamintabletten zu. An den ersten beiden Tagen benahm sich Chi mal wie ein Verrückter. Er schlief mit dem Spieß in der Hand. Er nahm die Amphetamintabletten überallhin mit, wie ein winziges Skapulier, das ihn vor allem Bösen beschützen würde. Seine drei Begleiter wichen nicht von seiner Seite. Wenn sie im Hof ihre Runden drehten, dann immer in Zweierreihe. Sie bewegten sich wie verirrte Suchtrupps auf der verseuchten Insel eines fremden Planeten. Manchmal beobachtete Haas sie von weitem und dachte: Arme Jungs, arme, in einen Traum verirrte Burschen. Am achten Tag ihres Gefängnisaufenthalts wurden die vier in der Wäscherei gestellt. Mit einem Schlag verschwanden die Gefängniswärter. Vier Häftlinge überwachten die Tür. Als Haas kam, ließen sie ihn passieren, als gehöre er zu ihnen, zur Familie, wofür Haas wortlos dankte, obwohl er nie aufgehört hatte, sie zu verachten. Chimal und seine drei Kumpane wurden in der Mitte der Wäscherei festgehalten. Allen vier hatte man die Münder mit Heftpflaster verklebt. Zwei der Kaziken waren bereits nackt. Einer zitterte am ganzen Körper. Aus der fünften Reihe, an eine Säule gelehnt, beobachtete Haas Chimals Augen. Er war überzeugt, dass er etwas sagen wollte. Wenn man ihm das Pflaster abgenommen hätte, dachte er, hätte er vielleicht seinen eigenen Häschern eine Predigt gehalten. Durch ein Fenster verfolgten einige Gefängniswärter das Schauspiel, das sich in der Wäscherei entwickelte. Das Licht, das durch dieses Fenster hereinfiel, war matt und gelb im Vergleich zu dem grellen Licht der Leuchtstoffröhren in der Wäscherei. Haas fiel auf, dass die Gefängniswärter ihre Dienstmützen abgenommen hatten. Einer besaß einen Fotoapparat. Ein Typ namens Ayala trat vor die nackten Kaziken und öffnete jedem mit einem Schnitt die Hoden. Die Männer, die sie festhielten, spannten die Muskeln an. Knisternde Spannung, dachte Haas, Leben pur. Ayala schien sie zu melken, bis die Eier in einer Hülle aus Fett, Blut und etwas Glasigem, von dem er nicht wusste (und nicht wissen musste), was es war, zu Boden flutschten. Wer ist der Typ?, fragte Haas. Das ist Ayala, flüsterte Tequila, die Schwarze Leber der Grenze. Schwarze Leber?, dachte Haas. Später erfuhr er von Tequila, dass zu den vielen Toten, die Ayala auf dem Gewissen hatte, auch acht Emigranten gehörten, die er im Pick-up nach Arizona geschleust hatte. Nachdem er drei Tage lang verschwunden war, kehrte er nach Santa Teresa zurück, von dem Pick-up und den Emigranten fehlte jedoch jede Spur, bis die Gringos die Reste des Fahrzeugs fanden, über und über blutverschmiert, als hätte Ayala, bevor er umkehrte, die Leichen noch zerstückelt. Etwas Furchtbares ist hier passiert, sagten die von der Border Patrol, aber weil die Leichen unauffindbar blieben, geriet die Sache in Vergessenheit. Was hatte Ayala mit den Leichen angestellt? Tequila zufolge hatte Ayala sie aufgegessen, so groß, wie seine Verrücktheit und seine Bosheit waren, obwohl Haas bezweifelte, dass jemand imstande war, er mochte noch so verrückt oder hungrig sein, sich acht illegale Einwanderer einzuverleiben. Einer der frisch kastrierten Kaziken wurde ohnmächtig. Der andere hatte die Augen geschlossen, und die Adern an seinem Hals schienen platzen zu wollen. Neben Ayala stand jetzt Farfán, und beide agierten als Zeremonienmeister. Mach das weg, sagte Farfán. Gómez fischte die Eier vom Boden und meinte, die sähen aus wie Schildkröteneier. Butterweich, sagte er. Einige der Zuschauer nickten, und keiner lachte. Dann wandten sich Ayala und Farfán, jeder mit einem siebzig Zentimeter langen Besenstiel, Chimal und dem anderen Kaziken zu.
Anfang November wurde die einunddreißigjährige María Sandra Rosales Zepeda ermordet, die vor der Bar Pancho Villa auf den Strich ging. María Sandra stammte aus einem kleinen Dorf im Bundesstaat Nayarit und war mit achtzehn nach Santa Teresa gekommen, wo sie in den Maquiladoras Horizon W&E und El Mueble Mexicano gearbeitet hatte. Mit zwanzig begann sie, als Prostituierte zu arbeiten. In der Nacht, in der man sie ermordete, befanden sich noch mindestens fünf Kolleginnen auf der Straße. Augenzeugen zufolge hielt ein schwarzer Suburban in der Nähe der Frauen. Im Wagen saßen drei Männer.
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