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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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tapfere Unbekannte erlitten hatte, dann aussteigen und in ein Museum gehen oder in eine Galerie oder in eine Buchhandlung in Montparnasse, und zwei Stunden am Tag Französisch lernen, frohgemut, hoffnungsvoll, wie schön Französisch ist, so eine musikalische Sprache, es hat dieses gewisse je ne sais quoi, und eines regnerischen Morgens dann die Verbände abnehmen, behutsam, wie ein Archäologe, der gerade einen unbeschreiblichen Knochen gefunden hat, wie ein Mädchen, das mit langsamen Bewegungen Stück für Stück ein Geschenk auspackt und dies möglichst lange hinauszögern möchte, auf immer und ewig? fast auf immer und ewig, bis schließlich der letzte Verband fiel, wohin? auf den Boden, den Teppichboden oder Holzfußboden, der Boden ist nämlich von feinster Qualität, und sämtliche Mullbinden ringeln sich am Boden wie Schlangen, oder sämtliche Mullbinden blinzeln wie schläfrige Schlangen, obwohl sie weiß, dass es keine Schlangen sind, eher die Schutzengel der Schlangen, und dann reicht ihr jemand einen Spiegel, und sie betrachtet sich, billigt sich, nickt sich zu mit einer Miene, in der sie den Hochmut ihrer Kindheit wiederentdeckt, die Liebe ihres Vaters und ihrer Mutter, und dann unterschreibt sie etwas, ein Blatt, ein Dokument, einen Scheck, und geht durch die Straßen von Paris. Einem neuen Leben entgegen? fragte Juan de Dios Martínez. Vermutlich ja, sagte die Leiterin. Mir gefällst du so, wie du bist, sagte Juan de Dios Martínez. Ein neues Leben, ohne Mexikaner, ohne Mexiko und ohne mexikanische Kranke, sagte die Leiterin. Mich machst du verrückt, so wie du bist, sagte Juan de Dios Martínez.
    Ende 1996 wurde in einigen mexikanischen Medien gesagt oder geschrieben, im Norden würden Filme mit realen Morden gedreht, Snuff-Movies, und die Hauptstadt des Snuff sei Santa Teresa. Eines Abends sprachen zwei mit Samthandschuhen ausgestattete Journalisten mit General Humberto Paredes, dem ehemaligen Polizeichef von DF, in seiner Trutzburg in der Siedlung Del Valle. Die Journalisten waren Macario López Santos, ein alter Haudegen der Regenbogenpresse, seit über vierzig Jahren im Geschäft, und Sergio González. Das Essen, mit dem der General sie bewirtete, bestand aus extrascharfen Tacos de carnita und Tequila La Invisible. Jeder andere Imbiss zu so später Stunde stoße ihm bloß sauer auf. Nach der Hälfte des Essens fragte ihn Macario López nach seiner Meinung über die Snuff-Industrie in Santa Teresa, und der General sagte, er habe in seinem langen Berufsleben viele Scheußlichkeiten gesehen, aber niemals einen Film dieser Art, und er bezweifle, dass es so etwas gebe. Aber es gibt diese Filme, sagte der alte Journalist. Vielleicht, vielleicht auch nicht, erwiderte der General, seltsam nur, dass ich, der ich alles gesehen und von allem erfahren habe, keinen einzigen zu Gesicht bekommen habe. Die Journalisten gaben beide zu, dass das in der Tat seltsam sei, deuteten aber die Vermutung an, dass sich diese Spielart des Grauens zur aktiven Zeit des Generals noch nicht ausgebildet habe. Der General war nicht einverstanden: Seines Erachtens hatte die Pornographie den Höhepunkt ihrer Entwicklung kurz vor der Französischen Revolution erreicht. Alles, was man in einem holländischen Film von heute oder in einer Sammlung von Fotografien oder in einem galanten Büchlein zu sehen bekäme, sei bereits vor 1789 fixiert worden und in hohem Maße redundant, ein Dreh an der Schraube eines Schauens, das schon schaute. General, sagte Macario López Santos, manchmal reden Sie wie Octavio Paz, lesen Sie gerade etwas von ihm? Der General lachte laut auf und sagte, er habe, und dies vor langer Zeit, lediglich Das Labyrinth der Einsamkeit gelesen und kein Wort verstanden. Damals war ich noch sehr jung, sagte der General und fasste die Journalisten genau ins Auge, ich muss etwa vierzig gewesen sein. Ah, mein General! sagte Macario López. Dann sprachen sie über die Freiheit und das Böse, über die Autobahnen der Freiheit, auf denen das Böse der Ferrari ist, und nach einer Weile, als eine alte Haushälterin die Teller abräumte und fragte, ob die Herren einen Kaffee wünschten, kamen sie auf das Thema der Snuff-Movies zurück. Macario López zufolge hatte die Situation in Mexiko einige neumodische Veränderungen erfahren. Zum einen war da ein noch nie dagewesenes Ausmaß an Korruption. Hinzu kam das Problem des Drogenhandels und die Berge von Geld, die sich um dieses neue Phänomen türmten. Die Snuff-Industrie war in

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