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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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eingetragen waren. Und schließlich: Dass die Häuser und Gebäude der Calle Ingeniero Guillermo Ortiz, zwei Blocks weiter nördlich, dem Bruder von Pedro Negrete und honorigen Rektor der Universität von Santa Teresa, Pablo Negrete, gehörten. Wie merkwürdig, dachte Juan de Dios. Man steht neben den Leichen und zittert. Die Leichen werden abgeholt, und man zittert nicht mehr. Ist Rengifo in den Mord an den Mädchen verwickelt? Ist sogar Campuzano darin verwickelt? Rengifo war der gute Drogenboss, Campuzano der böse Drogenboss. Merkwürdig, merkwürdig, dachte Juan de Dios. Keiner vergewaltigt und mordet im eigenen Haus. Keiner vergewaltigt und mordet in der Nachbarschaft des eigenen Hauses. Außer er ist verrückt und will gefasst werden. Zwei Abende nach dem Fund der Leichen trafen sich in einem an den Golfplatz angeschlossenen privaten Club der Oberbürgermeister von Santa Teresa, Herr José Refugio de las Heras, der Polizeichef Pedro Negrete und die Herren Pedro Rengifo und Estanislao Campuzano. Das Treffen dauerte bis vier Uhr morgens, und es wurden einige Dinge geklärt. Am nächsten Tag machte sich die gesamte Polizei der Stadt, könnte man fast sagen, auf die Jagd nach Javier Ramos. Beinahe jeden Stein der Wüste drehten sie nach ihm um. Tatsächlich jedoch waren sie nicht einmal imstande, ein vernünftiges Phantombild von ihm anzufertigen.
    Wochenlang dachte Juan de Dios Martínez an die vier Herzinfarkte, die Herminia Noriega vor ihrem Tod erlitten hatte. Manchmal dachte er daran, wenn er beim Essen saß, oder wenn er in der Toilette einer Cafeteria oder eines von Kommissaren frequentierten Schnellrestaurants sein Wasser abschlug, oder kurz vorm Einschlafen, wenn er gerade das Licht löschen wollte, oder Sekundenbruchteile vorher, und in so einem Fall konnte er unmöglich das Licht löschen, stand dann auf, trat ans Fenster und sah auf die Straße, eine gewöhnliche, hässliche, stille, spärlich beleuchtete Straße, ging in die Küche, setzte Wasser auf und kochte Kaffee, und manchmal, wenn er den heißen, ungesüßten Kaffee trank, einen beschissenen Kaffee, stellte er den Fernseher an und zappte sich durchs Nachtprogramm, das aus allen Himmelsrichtungen der Wüste hereinkam, er empfing um diese Zeit mexikanische und US-amerikanische Programme, Programme, in denen hirnverbrannten Idioten unter Sternen ritten und einander mit unverständlichen Worten begrüßten, auf Spanisch, Englisch oder Spanglisch, aber kein einziges verfluchtes Wort davon verständlich, und dann stellte Juan de Dios Martínez die Kaffeetasse auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen, und seinen Lippen entschlüpfte ein schwaches, deutliches Jaulen, als würde er weinen oder mit den Tränen kämpfen, aber wenn er schließlich die Hände wieder sinken ließ, kam nur seine alte, von der Mattscheibe erleuchtete Visage zum Vorschein, seine alte, unfruchtbare, trockene Haut, und nicht die Spur einer Träne.
    Als er Elvira Campos erzählte, was ihm widerfahren war, hörte die Leiterin der Nervenklinik ihn schweigend an, und dann, sehr viel später, als beide nackt im Dämmerlicht des Schlafzimmers ausruhten, gestand sie ihm, dass sie manchmal davon träumte, alles aufzugeben. Das heißt, radikal alles aufzugeben, ohne alle mildernden Umstände. Zum Beispiel träumte sie davon, ihre Wohnung und noch zwei andere, die sie in Santa Teresa besaß, zu verkaufen, dazu ihr Auto und ihren Schmuck, alles zu verkaufen, bis sie eine anständige Summe beisammenhatte, und dann würde sie eine Maschine nach Paris nehmen und sich dort eine kleine Wohnung mieten, ein Studio, sagen wir zwischen Villiers und Porte de Clichy, und dann würde sie einen berühmten Schönheitschirurgen aufsuchen, der an ihr wahre Wunder vollbrachte, sie liftete, ihre Nase und ihre Wangenknochen korrigierte, ihre Brüste vergrößerte, kurz, sie wäre nach Verlassen des Operationstischs ein neuer Mensch, eine andere Frau, keine Mittfünfzigerin, nein: Eine Mittvierzigerin, oder besser noch: Eine Frau um die Vierzig, nicht wiederzuerkennen, wie ausgewechselt, wie neu geboren. Natürlich würde sie noch eine Zeitlang überall Verbände tragen, wie eine Mumie, aber wie eine mexikanische, nicht wie eine ägyptische Mumie, und das gefiel ihr, zum Beispiel mit der Metro fahren und wissen, dass alle Pariser sie verstohlen ansahen, ihr sogar einen Platz anboten, während sie sich die fürchterlichen Schmerzen ausmalten, den Verkehrsunfall, die Verbrennungen, die die stille,

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