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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Windstöße. Was würde ich tun, wenn ich eingesperrt wäre? dachte Sergio. Mich in einer Ecke verkriechen, mir die Decke über den Kopf ziehen wie ein Kind? Würde ich zittern? Um Hilfe flehen, heulen, versuchen, mich umzubringen? Sie wollen mich kleinkriegen, sagte Haas. Sie schieben den Prozess hinaus. Sie haben Angst vor mir. Sie wollen mich kleinkriegen. Dann hörte er das Geräusch der Wüste und etwas, das klang wie die Schritte eines Tiers. Wir verlieren alle den Verstand, dachte Sergio. Haas? Sind Sie noch dran? Niemand antwortete.
    Nach der Verhaftung der Bisonbande im Januar atmete die Stadt auf. Reyes' schönstes Geschenk, betitelte La Voz de Sonora die Nachricht von der Festnahme der fünf Pachucos. Sicher, es gab Morde. Ein gewöhnlicher Dieb, dessen Bühne die Straßen der Innenstadt waren, wurde erstochen, zwei in den Drogenhandel verwickelte Typen wurden ermordet, desgleichen ein Hundezüchter, aber niemand fand eine vergewaltigte, gefolterte und anschließend ermordete Frau. Das war im Januar. Und wiederholte sich im Februar. Die gewöhnlichen Morde ja, Leute, die erst zusammen feierten und sich dann umbrachten, Morde, die nicht filmreif waren, Morde, die zur Folklore gehörten, nicht zur modernen Welt: Morde, die niemanden erschreckten. Der Serienmörder saß offiziell hinter Gittern. Seine Nachahmer oder Nachfolger oder Handlanger ebenfalls. Die Stadt konnte durchatmen.
    Im Januar machte der Korrespondent einer Zeitung aus Buenos Aires auf der Durchreise nach Los Angeles drei Tage in Santa Teresa Station und schrieb einen Bericht über die Stadt und die Frauenmorde. Er wollte Haas im Gefängnis aufsuchen, aber die Erlaubnis dazu wurde ihm verweigert. Er wohnte einem Stierkampf bei. Er besuchte das Bordell Innere Angelegenheiten und schlief mit einer Prostituierten namens Rosana. Er unternahm Abstecher in die Diskothek Domino's und die Bar Serafino's. Er lernte einen Kollegen vom Heraldo del Norte kennen und sah in der nämlichen Zeitung die Akte über die verschwundenen, entführten und ermordeten Frauen ein. Der Journalist vom Heraldo stellte ihm einen Freund vor, der ihm einen Freund vorstellte, der behauptete, einen Snuff-Movie gesehen zu haben. Der Argentinier sagte, er würde ihn gerne sehen. Der Freund des Freundes des Journalisten fragte, wie viel Dollar ihm die Sache wert sei. Der Argentinier erwiderte, dass er keinen Pfennig für solchen Schweinkram übrig habe, dass er ihn nur aus beruflichem Interesse sehen wolle und, wie er zugeben müsse, aus Neugier. Der Mexikaner verabredete sich mit ihm in einem Haus im Norden der Stadt. Der Argentinier hatte grüne Augen, war eins neunzig groß und wog fast hundert Kilo. Er kam zu der Verabredung und sah den Film. Der Mexikaner war klein und neigte zur Dicklichkeit, und während sie den Film schauten, saß er still und leise neben dem Argentinier auf dem Sofa wie ein junges Fräulein. Die ganze Zeit über, die der Film dauerte, erwartete der Argentinier, dass der Mexikaner ihm gleich an den Schwanz fassen werde. Aber alles, was der Mexikaner tat, war, geräuschvoll zu atmen, als wollte er sich keinen Kubikzentimeter Sauerstoff entgehen lassen, der die Lunge des Argentiniers passiert hatte. Als der Film zu Ende war, bat ihn der Argentinier höflich um eine Kopie, aber davon wollte der Mexikaner nichts wissen. Am Abend gingen sie zusammen Bier trinken, in einem Lokal namens El Rey del Taco. Während sie so tranken, glaubte der Argentinier einen Moment lang, die Kellner seien alle Zombies. Er fand das normal. Das Lokal war riesig, überall hingen Wandgemälde und Bilder, die auf die Kindheit des Taco-Königs anspielten, und über den Tischen hing eine von angestauten Alpträumen schwangere Luft. Irgendwann dachte der Argentinier, jemand habe ihm etwas ins Bier getan. Er verabschiedete sich eilig und kehrte mit dem Taxi ins Hotel zurück. Tags darauf fuhr er mit dem Bus nach Phoenix und nahm von dort ein Flugzeug nach Los Angeles, wo er tagsüber diejenigen Schauspieler interviewte, die er dazu überreden konnte, was nicht viele waren, und nachts einen langen Artikel über die Frauenmorde in Santa Teresa schrieb. Der Artikel legte den Akzent auf die Pornofilmindustrie und ihren illegalen Ableger, die Snuff-Movies. Glaubte man dem Argentinier, war der Begriff Snuff-Movie in Argentinien erfunden worden, allerdings nicht von einem Einheimischen, sondern von einem US-amerikanischen Ehepaar, das den weiten Weg zurückgelegt hatte, um einen Film zu drehen.

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