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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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im Innern des Landguts. Sexszenen, die JT, ein Meister der indirekten Beleuchtung, der Kunst der Andeutung und Suggestion, besonders gut beherrschte. Der Gutsverwalter schlachtete ein Kalb, das ihr Mittagessen werden sollte, und Mike, bewaffnet mit mehreren Plastiktüten, begleitete ihn. Als er zurückkam, waren die Tüten voller Blut. Der Dreh dieses Vormittags glich einem einzigen Gemetzel. Es sollte so aussehen, dass zwei Schauspieler eine der Schauspielerinnen umbrachten, dann zerstückelten und ihre Überreste in Leintücher wickelten, um sie draußen auf dem Feld zu verscharren. Dazu verwendeten sie die Fleischstücke des im Morgengrauen geschlachteten Kalbs und fast sämtliche Eingeweide. Eins der argentinischen Mädchen heulte und sagte, was sie da filmten, sei eine Sauerei. Die Gutsverwalterin dagegen schien sich zu amüsieren. Am dritten Tag der Dreharbeiten, einem Sonntag, fuhr die Gutsherrin im Bentley vor. Der einzige Bentley, an den JT sich erinnerte, gehörte einem Hollywoodproduzenten, in einer fernen Vergangenheit, als er noch glaubte, seine Zukunft läge in Hollywood. Die Gutsherrin war Mitte vierzig und eine hübsche, elegante blonde Frau, die ein sehr viel besseres Englisch sprach als die drei US-Amerikaner. Die jungen Argentinier behandelten sie anfangs sehr reserviert. Als würden sie ihr misstrauen, oder als hätte sie Grund, ihnen zu misstrauen, was sie nicht tat. Im Übrigen erwies sich die Hausherrin als ausgesprochen pragmatische Frau: Sie nahm die Vorratshaltung in die Hand, so dass nie Mangel an Nahrungsmitteln herrschte, sie ließ eine zusätzliche Frau anstellen, die der Angestellten beim Putzen half, führte feste Essenszeiten ein, stellte dem Regisseur ihren Bentley zur Verfügung. Schlagartig verlor das Gut den Charakter eines Indianerdorfes. Oder besser gesagt: Das Gut mitten in der Pampa verwandelte sich aus einem Sparta in ein Athen, wie einer der jungen Schauspieler an einem der geselligen Abende tönte, die seit der Ankunft der Gutsherrin jeden Tag auf der geräumigen und gemütlichen Veranda stattfanden. Von diesen Abenden, die sich manchmal bis drei oder vier Uhr morgens hinzogen, sollte JT die Fähigkeit der Gastgeberin, zuzuhören, in Erinnerung behalten, ihre lebhaften Augen, ihre im Mondlicht leuchtende Haut, die Geschichten, die sie von ihrer Kindheit auf dem Land und ihrer Jugend in einem Schweizer Internat erzählte. Manchmal, besonders wenn er allein war, in seinem Zimmer, im Bett, die Decke bis zum Kinn, dachte JT, dass diese Frau genau die Frau sei, die er sein Leben lang vergeblich gesucht hatte. Bin ich nicht deswegen hergekommen, grübelte er, um ihr zu begegnen? Hat Mikes widerlicher, unverständlicher Film einen anderen Sinn, als mir die Möglichkeit zu geben, in diese gottverlassene Gegend zu kommen und sie kennenzulernen? Hatte es eine Bedeutung, dass ich ohne Job war, als Mike mich anrief? Natürlich hatte es eine Bedeutung. Es bedeutete, dass ich keine andere Wahl hatte, als sein Angebot anzunehmen und sie kennenzulernen. Die Hausherrin hieß Estela, und JT war imstande, ihren Namen zu wiederholen, bis er einen trockenen Mund bekam. Estela, Estela, sagte er wieder und wieder unter der Decke, wie ein nimmermüder Wurm oder Maulwurf. Tagsüber jedoch, wenn sie sich begegneten oder miteinander sprachen, war der Kameramann die Diskretion und Zurückhaltung in Person. Er erlaubte sich keine Blicke der Sorte verwundetes Reh, erlaubte sich keine verliebten Andeutungen oder Anwandlungen. Seine Beziehung zur Gastgeberin bewegte sich in jedem Moment in den strikten Grenzen der Höflichkeit und des Respekts. Nach Abschluss der Dreharbeiten erbot sich die Gutsbesitzerin, die Epsteins und JT in ihrem Bentley mitzunehmen, aber Letzterer zog es vor, zusammen mit der Schauspielertruppe nach Buenos Aires zurückzufahren. Drei Tage später setzten die Epsteins ihn am Flughafen ab, und JT traute sich nicht, direkt nach Estela zu fragen. Er fragte auch nicht nach dem Film. In New York versuchte er vergeblich, sie zu vergessen. Die ersten Tage waren von Traurigkeit und Melancholie getrübt, und JT glaubte, er werde nie darüber hinwegkommen. Außerdem: Wozu darüber hinwegkommen? Mit der Zeit begriff sein Verstand, dass er nichts verloren, sondern viel gewonnen hatte. Ich habe, dachte er bei sich, wenigstens die Frau meines Lebens kennengelernt. Andere, die meisten, sehen sie nur flüchtig im Film, den Schatten großer Schauspielerinnen, den Blick ihrer großen Liebe. Ich

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