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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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kleines Mädchen, dessen einzige Aufgabe es war, einmal im Monat mit der Mutter auf die Suche nach seltenen Kräutern zu gehen und die Wäsche zu waschen - in einem alten Holztrog hinter dem Haus, nicht im öffentlichen Waschhaus, das etwas weit weg für sie war. In jenem Jahr erschien im Dorf Oberst Sabino Duque (der 1915 wegen Feigheit vor dem Feind erschossen werden sollte), um mutige Männer - und die aus Villaviciosa galten als die mutigsten weit und breit - für den revolutionären Kampf zu finden. Etliche Burschen aus dem Dorf ließen sich anwerben. Einer von ihnen, der in María Expósitos Augen immer nur ein sporadischer Spielkamerad gewesen war, so alt wie sie und offenbar auch genauso kindlich, entschloss sich, ihr in der Nacht, bevor er in den Krieg zog, seine Liebe zu gestehen. Dafür wählte er eine Scheune, die keiner mehr benutzte (denn die Leute aus Villaviciosa besaßen immer weniger), und ob der Heiterkeit, die sein Geständnis bei dem Mädchen hervorrief, ging er dazu über, sie an Ort und Stelle zu vergewaltigen, verzweifelt und ungeschickt. Bevor er sie im Morgengrauen verließ, versprach er ihr, zurückzukommen und sie zu heiraten, aber sieben Monate später starb er bei einem Scharmützel mit Bundestruppen und wurde mitsamt seinem Pferd vom Río Sangre de Cristo mitgerissen. Er kehrte also nie nach Villaviciosa zurück; so wie viele junge Männer, die in den Krieg zogen oder sich als Revolverhelden verdingten und von denen man nie wieder etwas hörte, oder nur ziemlich zweifelhafte, hie und da kolportierte Geschichten. Jedenfalls kam neun Monate später María Expósito Expósito zur Welt, und die junge, über Nacht Mutter gewordene María Expósito begann zu arbeiten, indem sie in den Nachbardörfern die Medizin ihrer Mutter und Eier aus ihrem Hühnerstall verkaufte, und es ging ihr dabei nicht schlecht. Im Jahr 1917 geschah etwas, das in der Familie Expósito nicht oft vorkam: María kehrte schwanger von einer ihrer Reisen zurück, und diesmal gebar sie einen Jungen. Er hieß Rafael. Seine Augen waren grün wie die ihres belgischen Urgroßvaters, und ihr Blick hatte jenen seltsamen Ausdruck, der allen Auswärtigen an den Bewohnern von Villaviciosa auffiel: Ein düsterer, durchdringender Mörderblick. In den seltenen Fällen, da man sie nach der Identität des Vaters des Jungen fragte, erwiderte María Expósito, die nach und nach Ausdrucksweise und Hexengebaren ihrer Mutter angenommen hatte, obschon sie nie über den Verkauf von Medizin hinausgelangt war und auch schon mal Rheumamittelchen mit Krampfadernsalben verwechselte, Rafaels Vater sei der Teufel und Rafael sein leibhaftiges Ebenbild. Im Jahr 1934 trafen während eines homerischen Gelages der Torero Celestino Arraya und seine Kumpel vom Club der Apokalyptischen Reiter bei Morgengrauen in Villaviciosa ein und nahmen in einem Gasthaus Quartier, das heute nicht mehr existiert und damals sogar Betten für Reisende anbot. Lauthals verlangten sie nach gegrilltem Ziegenfleisch, das ihnen von drei Mädchen aus dem Dorf serviert wurde. Eins dieser Mädchen war María Expósito. Um zwölf Uhr mittags zogen sie weiter, und drei Monate später gestand María Expósito ihrer Mutter, sie würde ein Kind bekommen. Und wer ist der Vater? fragte ihr Bruder. Die Frauen schwiegen, und der Junge stellte auf eigene Faust Nachforschungen über seine Schwester an. Eine Woche später lieh sich Rafael Expósito einen Karabiner und ging zu Fuß nach Santa Teresa. Er war noch nie in einer so großen Stadt mit asphaltierten Straßen gewesen, das Teatro Carlota, die Kinos, das Rathaus und die Nutten, die damals in der Siedlung México arbeiteten, in direkter Nähe der Grenze und der US-amerikanischen Stadt Adobe, versetzten ihn in höchstes Erstaunen. Er beschloss, drei Tage in der Stadt zu bleiben und sich ein wenig einzugewöhnen, bevor er sein Vorhaben ausführte. Den ersten Tag verwandte er darauf, die Orte ausfindig zu machen, an denen Celestino Arraya sich aufhielt, und einen kostenlosen Schlafplatz aufzutun. Er fand heraus, dass in bestimmten Vierteln die Nächte wie helllichter Tag waren, und er gab sich das Versprechen, nicht zu schlafen. Am zweiten Tag, als er den Nuttenstrich auf und ab lief, erbarmte sich seiner eine kleine, hübsch geformte Yukatanerin mit kohlschwarzem, hüftlangem Haar und nahm ihn mit zu sich. In ihrem Zimmer in der Pension kochte sie ihm eine Reissuppe, und anschließend trieben sie es miteinander bis Einbruch der Dunkelheit.

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