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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Für Rafael Expósito war es das erste Mal. Als sie los musste, befahl ihm die Prostituierte, im Zimmer oder, falls er ausging, im Café an der Ecke oder auf der Treppe auf sie zu warten. Der Junge sagte, er sei in sie verliebt, und die Prostituierte ging und war glücklich. Am dritten Tag lauschten sie im Teatro Carlota den romantischen Liedern von Pajarito de la Cruz, dem dominikanischen Barden, der eine Tournee durch ganz Mexiko machte, und den Rancheras von José Ramírez, aber am besten gefielen dem Jungen die Revuegirls und die Zauberkunststücke eines chinesischen Illusionisten aus Michoacán. Am Nachmittag des vierten Tages, satt und heiteren Gemüts, verabschiedete sich Rafael Expósito von der Prostituierten, holte seinen Karabiner aus dem Versteck und begab sich entschlossen in die Bar Los Primas Hermanos, wo er Celestino Arraya traf. Sekunden nachdem er abgedrückt hatte, wusste er ohne den geringsten Zweifel, dass er ihn getötet hatte, und fühlte sich gerächt und glücklich. Er schloss nicht die Augen, als die Freunde des Toreros ihre Revolver auf ihn entluden. Er wurde im Armengrab von Santa Teresa beigesetzt. 1935 kam eine weitere María Expósito zur Welt. Sie war schüchtern und sanft und wuchs zu einer Größe heran, die selbst die stattlichsten Männer des Dorfes klein erscheinen ließ. Vom zehnten Lebensjahr an verkaufte sie zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter die Heiltränke ihrer Urgroßmutter, die sie auf ihrer frühmorgendlichen, sehr wählerischen Suche nach Kräutern begleitete. Manchmal sahen die Bauern von Villaviciosa ihre hoch aufgeschossene Silhouette, die sich gegen den Horizont abzeichnete, und fanden es seltsam, dass es Mädchen wie Bohnenstangen gab, die so große Schritte machten. Sie war die Erste ihrer Sippe, die lesen und schreiben lernte. Mit achtzehn wurde sie von einem Hausierer vergewaltigt, und 1953 brachte sie ein Mädchen zur Welt, das den Namen María Expósito erhielt. Damals lebten am Rand von Villaviciosa fünf Generationen María Expósitos unter einem Dach, und die kleine Ranch war um Zimmeranbauten und eine große Küche gewachsen, in der es einen Petroleumofen gab und einen Herd für Feuerholz, an dem die älteste María ihre Mittelchen und Tränke braute. Abends zur Essenszeit saßen immer alle fünf beisammen, das Kind, die Bohnenstange, Rafaels schwermütige Schwester, die Kindliche und die Hexe, und dann sprachen sie von Heiligen und Krankheiten, die sie nie bekamen, vom Wetter und den Männern, die sie, das Wetter wie die Männer, für eine Plage hielten, und dankten dem Himmel, wenn auch ohne übermäßige Begeisterung, sagte die Stimme, dass sie bloß Frauen waren. Im Jahr 1976 begegnete die junge María Expósito in der Wüste zwei Studenten aus DF, die sagten, sie hätten sich verirrt, die aber eher so aussahen, als seien sie vor etwas auf der Flucht, und die sie nach einer atemberaubenden Woche nie wiedersah. Die Studenten lebten in ihrem eigenen Auto, und einer von ihnen schien krank zu sein. Sie schienen unter Drogen zu stehen, sprachen viel und aßen nichts, doch brachte sie ihnen 'Tortillas und Bohnen, die sie von zu Hause stahl. Sie sprachen zum Beispiel von einer neuen Revolution, einer unsichtbaren Revolution, die schon gezeugt und unterwegs sei, aber frühestens in fünfzig Jahre die Straße erreichen werde. Oder in fünfhundert. Oder in fünftausend. Die Studenten kannten Villaviciosa, aber finden wollten sie die Hauptstraße nach Ures oder Hermosillo. Jeden Abend schliefen sie mit ihr im Innern des Wagens oder auf dem warmen Wüstenboden, bis sie eines Morgens kam und sie nicht mehr antraf. Drei Monate später, als ihre Ururgroßmutter sie fragte, wer der Vater des Wesens sei, das sie erwarte, hatte die junge María Expósito eine seltsame Vision: Sie sah sich selbst, wie sie mitten auf einem Salzsee mit zwei Männern vögelte, sah einen Tunnel voller Pflanzen- und Blumentöpfe. Gegen den Wunsch ihrer Familie, die den Jungen auf den Namen Rafael taufen wollte, nannte María Expósito den Kleinen Olegario, nach dem Schutzpatron der Jäger, einem katalanischen Mönch des zwölften Jahrhunderts, Bischof von Barcelona und Erzbischof von Tarragona, außerdem entschied sie, dass der erste Nachname ihres Sohnes nicht Expósito lauten solle, weil er Findelkind bedeute, wie ihr die Studenten aus DF in einer gemeinsam verbrachten Nacht erklärt hatten, sondern Cura, und so, als Olegario Cura Expósito, trug sie ihn ins Register der dreißig

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