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Roman, sagte Sergio, und er ist sehr schlecht. Haben Sie ihn gelesen? Habe ich, sagte die Abgeordnete, ich habe alles von Ihnen gelesen. Er ist sehr schlecht, sagte Sergio und fügte hinzu: Hier wird weder zensiert noch gelesen, aber mit der Presse verhält es sich anders. Zeitungen werden durchaus gelesen. Zumindest die Schlagzeilen. Und nach kurzem Schweigen: Was ist mit Loya geschehen? Loya ist gestorben, sagte die Abgeordnete. Nein, er wurde weder ermordet, noch ist er verschwunden. Er ist einfach gestorben. Er hatte Krebs, und keiner wusste davon. Er war ein introvertierter Typ. Sein Detektivbüro wird jetzt von jemand anderem geleitet, vielleicht existiert es nicht einmal mehr, vielleicht ist es mittlerweile eine Consulting-Firma oder eine Unternehmensberatung. Keine Ahnung. Bevor er starb, übergab mir Loya sämtliche Unterlagen zum Fall Kelly. Was er nicht weitergeben konnte, hatte er vernichtet. Ich ahnte Schlimmes, aber er wollte mir lieber nichts sagen. Er ging in die Vereinigten Staaten, in eine Klinik in Seattle, wo er noch drei Monate durchhielt und dann starb. Er war ein eigenartiger Mensch. Ein einziges Mal war ich bei ihm zu Hause, er lebte allein in einer Wohnung in der Siedlung Nápoles. Äußerlich wirkte alles ganz normal, ein Mittelklasseviertel eben, aber das Innere der Wohnung war völlig anders, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, es war Loya, ein Spiegel von Loya oder eine Art Selbstporträt von Loya, genau, ein unvollendetes Selbstporträt. Er besaß viele Schallplatten und Kunstbände. Die Türen waren gepanzert. Ein goldener Rahmen fasste das Foto einer älteren Frau, eine ziemlich melodramatische Geste. Die Küche war komplett umgebaut, geräumig und mit professionellen Küchengeräten ausgestattet. Als er erfuhr, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb, rief er mich von Seattle aus an und verabschiedete sich von mir auf seine Weise. Ich erinnere mich, dass ich ihn fragte, ob er Angst habe. Ich weiß nicht, warum ich ihm diese Frage stellte. Er antwortete mit einer Gegenfrage. Ob ich Angst hätte. Nein, ich habe keine Angst, sagte ich. Dann habe ich auch keine, sagte er. Jetzt möchte ich, dass Sie alles, was Loya und ich zusammengetragen haben, verwenden und ins Wespennest stechen. Sie werden selbstverständlich nicht allein sein. Ich bin immer an Ihrer Seite, auch wenn Sie mich nicht sehen, und unterstütze Sie in jeder Sekunde.
Der letzte Fall des Jahres 1997 besaß große Ähnlichkeit mit dem vorletzten, nur wurde der Plastiksack mit der Leiche diesmal nicht im äußersten Westen gefunden, sondern im äußersten Osten, an der Wüstenstraße, die, sagen wir, parallel zur Grenze verläuft, sich verzweigt und schließlich an den ersten Gebirgsausläufern und Schluchten im Sand verläuft. Das Opfer, so der Befund, war seit langem tot. Es war etwa achtzehn Jahre alt und eins achtundfünfzig bis eins sechzig groß. Die Leiche war nackt, jedoch fand man in der Tüte ein Paar feine, hochhackige Lederschuhe, weshalb man vermutete, es könne sich um eine Prostituierte handeln. Außerdem befand sich noch ein weißes Tangahöschen in der Tüte. Beide Fälle, dieser wie der vorangegangene, wurden nach dreitägigen, eher lustlosen Ermittlungen ergebnislos abgeschlossen. Das Weihnachtsfest wurde in Santa Teresa auf die übliche Weise gefeiert. Man veranstaltete Posadas und zerschlug Piñatas, trank Tequila und Bier. Selbst in den ärmlichsten Straßen hörte man die Leute lachen. Einige von diesen Straßen waren stockfinster, schwarzen Löchern vergleichbar, und das Gelächter, das von irgendwoher erklang, war das einzige Signal, der einzige Anhaltspunkt, an dem Nachbarn und Fremde sich orientieren konnten, um sich nicht zu verlaufen.
Der Teil von Archimboldi
Seine Mutter war auf einem Auge blind. Flachsblond und auf einem Auge blind. Ihr gesundes Auge blickte hellblau und milde, als wäre sie nicht besonders intelligent, dafür aber gut, herzensgut. Sein Vater hatte nur ein Bein. Das andere hatte er im Krieg verloren und danach einen Monat in einem Lazarett in der Nähe von Düren gelegen, von dem er dachte, er werde es nicht lebend verlassen, und wo er sah, wie die Verwundeten, die gehen konnten (er nicht!), den Verwundeten, die nicht gehen konnten, die Zigaretten stahlen. Als man ihm seine Zigaretten stehlen wollte, packte er jedoch den Dieb, einen sommersprossigen, breitgesichtigen, breitschultrigen und breithüftigen Burschen, beim Kragen und sagte: Halt! Mit dem Tabak eines Soldaten
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