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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Ebenen, die keine Ebenen, Tälern, die keine Täler, und Abgründen, die keine Abgründe waren.
    Wenn die Einäugige ihn in einem Zuber badete, entglitt der kleine Hans Reiter jedes Mal ihren seifigen Händen und sank mit offenen Augen auf den Grund, und hätten die Hände seiner Mutter ihn nicht wieder an die Oberfläche geholt, wäre er dort geblieben, hätte das schwarze Holz betrachtet und das schwarze Wasser, in dem die eigenen Schmutzpartikel trieben, winzige Hautstückchen, die wie Unterseeboote auf ein Ziel zusteuerten, eine Reede von der Größe eines Auges, eine dunkle, ruhige Bucht, obwohl Ruhe nicht existierte, nur Bewegung, die vieles kaschiert, unter anderem die Ruhe.
    Einmal sagte der Einbeinige, der manchmal zuschaute, wenn die Einäugige den Kleinen badete, sie solle ihn nicht heraufholen, damit man sehe, was er täte. Vom Grund des Zubers aus betrachteten Hans Reiters graue Augen das hellblaue Auge seiner Mutter, dann drehte er sich zur Seite und betrachtete seelenruhig die Fragmente seines Körpers, die sich in alle Richtungen entfernten wie blindlings ins All geschossene Raumsonden. Als ihm die Luft ausging, betrachtete er diese winzigen, sich entfernenden Teilchen nicht länger, sondern folgte ihnen. Er wurde rot und stellte fest, dass er sich durch eine Zone bewegte, die große Ähnlichkeit mit der Hölle besaß. Aber weder öffnete er den Mund, noch machte er irgendwelche Anstalten, aufzutauchen, obwohl sein Kopf keine zehn Zentimeter von der Oberfläche und den Sauerstoffmeeren entfernt war. Schließlich hoben ihn die Arme seiner Mutter in die Luft, und er begann zu weinen. Der Einbeinige in seinem alten Militärmantel sah zu Boden und spuckte dann in hohem Bogen in den Kamin.
    Im Alter von drei Jahren war Hans Reiter größer als alle Dreijährigen im Dorf, auch größer als die Vierjährigen, und nicht einmal alle Fünfjährigen überragten ihn. Aber er stand nicht sehr sicher auf den Beinen, und der Dorfarzt schob das auf seine Größe und empfahl, ihm mehr Milch zu geben, damit das Kalzium die Knochen stärke. Aber der Arzt irrte. Grund für Hans Reiters wackligen Gang war, dass er sich auf der Erdoberfläche bewegte wie ein ungeübter Taucher am Meeresgrund. In Wirklichkeit lebte, aß, schlief und spielte er auf dem Meeresgrund. Mit der Milch gab es kein Problem, seine Mutter besaß drei Kühe, dazu Hühner, und der Junge wurde gut ernährt.
    Der Einbeinige sah ihn manchmal durch die Gegend laufen und grübelte dann, ob es in seiner Familie jemals Männer von überdurchschnittlicher Größe gegeben habe. Angeblich hatte der Bruder eines Ururgroßvaters oder Urgroßvaters unter Friedrich dem Großen gedient, in einem Regiment, das nur aus Männern von ein Meter achtzig oder ein Meter fünfundachtzig, den langen Kerls, bestand. Dieses Luxusregiment oder Luxusbataillon erlitt hohe Verluste, denn es war außerordentlich leicht, auf sie anzulegen und ins Schwarze zu treffen.
    Einmal, dachte der Einbeinige, während er zusah, wie sein Sohn an den Nachbargärten entlangstolperte, stand das preußische Regiment einem russischen Regiment ähnlichen Kalibers gegenüber, Bauern von eins achtzig oder eins fünfundachtzig in den grünen Uniformen der Zarengarde; sie gerieten aneinander und es wurde ein fürchterliches Gemetzel, und auch als die Truppen beider Heere den Rückzug angetreten hatten, lieferten sich die beiden Regimenter von Riesen noch einen erbitterten Kampf Mann gegen Mann, der erst endete, als die beiden oberkommandierenden Generäle den Befehl zum vollständigen Rückzug in die neuen Stellungen erteilten.
    Bevor er in den Krieg zog, maß der Vater von Hans Reiter ein Meter achtundsechzig. Bei seiner Rückkehr, vielleicht weil ihm ein Bein fehlte, nur noch ein Meter fünfundsechzig. Ein Regiment von Riesen, dachte er, ist eine Schnapsidee. Die Einäugige war ein Meter sechzig und dachte, je größer die Männer, desto besser.
    Im Alter von sechs Jahren war Hans Reiter größer als alle Sechsjährigen, größer als alle Siebenjährigen, größer als alle Achtjährigen, größer als alle Neunjährigen und größer als die Hälfte der Zehnjährigen. Außerdem klaute er mit sechs Jahren zum ersten Mal ein Buch. Das Buch trug den Titel Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten. Er versteckte es unter seinem Bett, obwohl niemand in der Schule das Buch je vermisste. Damals begann er zu tauchen. Im Jahr 1926. Er schwamm seit seinem vierten Lebensjahr und steckte den Kopf unter Wasser und

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