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öffnete die Augen, woraufhin seine Mutter mit ihm schimpfte, weil er ständig mit roten Augen herumlief und sie fürchtete, wenn die Leute ihn so sähen, könnten sie denken, der Junge würde den ganzen Tag heulen. Aber Tauchen lernte er erst mit sechs. Er kam mit dem Kopf bis in ein Meter Tiefe und schlug die Augen auf. Das schon. Aber das war kein Tauchen. Mit sechs fand er, ein Meter sei ziemlich wenig, und stürzte sich kopfüber bis auf den Meeresgrund.
Das Buch Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten hatte er im Kopf, wie man zu sagen pflegt, und blätterte beim Tauchen Seite um Seite um. So entdeckte er Laminaria digitata, eine Alge von beträchtlicher Größe, bestehend aus einem kräftigen Stiel und einem breiten Blatt, wie es in dem Buch hieß, in Form eines Fächers, der sich zu länglichen Streifen verzweigt, die tatsächlich wie Finger aussehen. Laminaria digitata ist eine in kalten Gewässern wie dem Baltischen Meer, der Nordsee und dem Atlantik heimische Alge. Man findet sie in großen Ansammlungen, wenn das Meer seinen niedrigsten Stand erreicht, sowie an Felsenküsten. Bei Ebbe treten ganze Wälder dieser Algen zutage. Als Hans Reiter zum ersten Mal einen Fingertangwald sah, begann er unter Wasser vor Glück zu weinen. Schwer vorstellbar, dass ein Mensch beim Tauchen mit offenen Augen weint, aber vergessen wir nicht, dass Hans damals erst sechs Jahre alt und in gewisser Hinsicht ein einzigartiges Kind war.
Laminaria digitata ist von hellbrauner Farbe und ähnelt der Laminaria hyperborea, die einen raueren Stiel hat, und der Saccorhiza polyschides, deren Stiel knollige Auswüchse aufweist. Die beiden letztgenannten Algen leben jedoch in tiefen Gewässern, und obwohl sich Hans Reiter an manchen Sommermittagen beim Hinausschwimmen weit vom Strand oder den Klippen entfernte, wo er seine Kleider zurückließ, und dann hinabtauchte, bekam er sie nie zu sehen, konnte sich nur einen stillen, stummen Wald dort unten ausmalen.
Damals begann er, die verschiedensten Arten von Algen in ein Schulheft zu zeichnen. Er zeichnete Chorda filum, eine Alge, die aus dünnen Schnüren besteht, die gleichwohl eine Länge von bis zu acht Metern erreichen kann. Ihre Vertreter sind unverzweigt und wirken zierlich, sind in Wirklichkeit aber sehr kräftig. Sie wachsen unterhalb der Niedrigwasserschwelle. Er zeichnete auch Leathesia difformis, eine Alge, die aus knolligen Blasen von bräunlich grüner Farbe besteht und auf Felsen und anderen Algen wächst. Sie sieht merkwürdig aus. Er sah nie welche, träumte aber oft von ihnen. Er zeichnete Ascophyllum nodosum, eine olivgrüne Alge von ausuferndem Wuchs, deren Zweige sich in regelmäßigen Abständen zu eiförmigen Knollen verdicken. Bei Ascophyllum nodosum unterscheiden sich männliche und weibliche Exemplare, die beide an Weintrauben erinnernde Fruchtstöcke hervorbringen. Bei der männlichen Pflanze sind sie jedoch gelb. Bei der weiblichen grünlich. Er zeichnete Laminaria saccharina, eine Alge, die aus einem einzigen Blatt in Form eines Gürtels besteht. In trockenem Zustand sieht man auf der Blattoberfläche Kristalle einer süßlichen Substanz, das sogenannte Mannitol. Sie wächst an felsigen Küsten, wo sie sich an vielerlei feste Gegenstände klammert, doch wird sie oft vom Meer fortgerissen. Er zeichnete Padina Pavonia, eine nicht sehr häufige, nicht sehr große Algenart mit fächerförmigem Wedel. Sie bevorzugt wärmere Gewässer, und ihre Verbreitung reicht von Großbritanniens Südküste bis zum Mittelmeer. Es existieren keine verwandten Arten. Er zeichnete Sargassum vulgare, eine Alge, die an den Fels- und Kiesstränden des Mittelmeers lebt und zwischen ihren Blättern kleine stielartige Fortpflanzungsorgane trägt. Man findet sie im Flachen ebenso wie in großer Tiefe. Er zeichnete Porphyra umbilicalis, eine außergewöhnlich schöne Alge von bis zu zwanzig Zentimeter Länge und purpurroter Färbung. Sie wächst im Mittelmeer, im Atlantik, im Ärmelkanal und in der Nordsee. Von Porphyra existieren mehrere Arten, und alle sind essbar. Besonders die Waliser sind verrückt nach ihr.
»Die Waliser sind Schweine«, sagte der Einbeinige auf Nachfrage seines Sohnes. »Totale Schweine. Die Engländer sind auch Schweine, aber nicht ganz so große wie die Waliser. Obwohl sie in Wirklichkeit genauso große Schweine sind, sie versuchen nur, weniger schweinisch zu wirken, und weil sie gut heucheln können, gelingt es ihnen am Ende. Die Schotten sind größere Schweine
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