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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Bewohner aus dem Dorf der Dicken müßig durch die Straßen des Dorfs der Blauen Frauen oder des Dorfs der Roten Männer schlendern und dachte, dass die Bewohner beider Ortschaften, die ja jetzt Geister waren, vielleicht durch Leute aus dem Dorf der Dicken den Tod gefunden hatten, die in der Kunst des Tötens fürchterlich und unerbittlich sein mussten, obwohl sie ihm nie etwas getan hatten, unter anderem wohl, weil er ein Taucher war, also dieser Welt nicht angehörte, in die er nur als Entdecker oder Besucher kam.
    Andere Male führte ihn sein Weg Richtung Westen, und hier lief er durch die Hauptstraße des Eierdorfs, das sich mit jedem Jahr weiter von der Küste entfernte, als würden seine Häuser sich selbständig machen und in der Nähe der Niederungen und Wälder ein sichereres Plätzchen suchen wollen. Jenseits des Eierdorfs lag das Schweinedorf, eine Ortschaft, von der er annahm, dass sein Vater nie einen Fuß hineinsetzen würde, in der es viele Schweineställe und Herden von Schweinen gab, die glücklichsten in diesem Teil Preußens, die den Wanderer ungeachtet von sozialer Stellung, Alter oder Familienstand mit freundlichem, fast musikalischem, oder ohne fast: Mit durchaus musikalischem Grunzen begrüßten, während die Dörfler reglos dastanden, den Hut in der Hand oder das Gesicht von ihm verdeckt, ob aus Bescheidenheit oder Scham, das wusste man nicht.
    Noch ein Stück weiter lag das Dorf der Geschwätzigen Mädchen, Mädchen, die auf ausgelassene Feste und Bälle in noch größeren Dörfern gingen, deren Namen der junge Hans Reiter hörte und sofort wieder vergaß, Mädchen, die auf der Straße rauchten und von den Matrosen in einem großen Hafen sprachen, die auf diesen oder jenen Schiffen dienten, deren Namen der junge Hans Reiter sofort wieder vergaß, Mädchen, die ins Kino gingen und furchtbar schwülstige Filme sahen, in denen die schönsten Männer der Welt mitspielten, und Schauspielerinnen, die man, wenn man mit der Mode gehen wollte, imitieren musste und deren Namen der junge Hans Reiter sofort wieder vergaß. Wenn er wie von einem nächtlichen Tauchgang nach Hause zurückkehrte, fragte ihn seine Mutter, wo er den Tag über gewesen sei, und der junge Hans Reiter erzählte, was ihm gerade einfiel, nur nicht die Wahrheit.
    Dann sah ihn die Einäugige mit ihrem hellblauen Auge an, und der Junge hielt ihrem Blick mit seinen beiden grauen Augen stand, und aus einer Ecke nahe des Kamins sah den beiden der Einbeinige mit seinen beiden dunkelblauen Augen zu, und für drei oder vier Sekunden schien die Insel Preußen aus der Tiefe emporzusteigen.
    Als Hans Reiter acht Jahre alt war, verlor er das Interesse an der Schule. Damals wäre er schon zweimal um ein Haar ertrunken. Das eine Mal im Sommer, als ihn ein junger Mann aus Berlin, der die Ferien im Dorf der Geschwätzigen Mädchen verbrachte, aus dem Wasser gezogen hatte. Der junge Feriengast sah den Knaben, dessen Schopf bei einigen Felsen abwechselnd auftauchte und wieder verschwand, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es sich wirklich um einen Knaben handelte, der Feriengast war nämlich kurzsichtig und hatte ihn zunächst für eine Alge gehalten, zog er sein Sakko aus, in dem sich wichtige Papiere befanden, und kletterte die Klippen hinunter, bis es nicht weiterging und er ins Wasser springen musste. Mit vier Zügen war er bei dem Jungen, und nachdem er vom Wasser aus die Küste nach einer günstigen Stelle abgesucht hatte, um an Land zu gehen, visierte er einen Abschnitt an, rund fünfundzwanzig Meter von dort entfernt, wo er hineingesprungen war.
    Der Feriengast hieß Vogel und war ein Bursche von schier unbegreiflichem Optimismus. Möglich, dass er gar nicht optimistisch war, sondern bloß verrückt, und dass der Urlaub, den er im Dorf der Geschwätzigen Mädchen verbrachte, auf eine Anordnung seines Arztes zurückging, der bemüht gewesen war, ihn aus Sorge um seine Gesundheit unter fadenscheinigen Vorwänden aus Berlin fortzulocken. Wer Vogel ein wenig näher kannte, dem wurde seine Anwesenheit bald unerträglich. Er glaubte an das Gute im Menschen, sagte, dass einer, dessen Herz rein sei, von Moskau nach Madrid wandern könne, ohne dass ihm jemand komisch käme, wilde Tiere nicht, Polizisten nicht und erst recht keine Zöllner, denn der Reisende würde die nötigen Vorkehrungen treffen, würde unter anderem von Zeit zu Zeit den Weg verlassen und die Reise querfeldein fortsetzen. Er war liebeshungrig und linkisch, weshalb er

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