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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Mädchen, mehr dick als dünn, aber immer lächelnd, immer mit der beneidenswerten Eigenschaft, zu lächeln und in allem das Positive zu sehen, was den Charakter seiner Schwester getreulich wiedergab.
    Mit dreizehn Jahren gab Hans Reiter die Schule auf. Das geschah 1933, in dem Jahr, als Hitler an die Macht kam. Mit zwölf hatte er an einer Schule im Dorf der Geschwätzigen Mädchen mit Lernen begonnen. Aber aus verschiedenen Gründen, jeder für sich vollkommen vertretbar, mochte er die Schule nicht, weshalb er auf dem Schulweg herumtrödelte, der ihm nicht horizontal oder auf und ab horizontal oder kreuz und quer horizontal, sondern vertikal vorkam, wie ein in die Länge gezogener Sturz auf den Grund des Meeres, wo sich alles, die Bäume, das Gras, die Moore, die Tiere, die Zäune, in Meeresinsekten und Krustentiere verwandelte, in schwebendes, fremdes Leben, in Seesterne und in Seespinnen, deren Leib, wie der junge Reiter wusste, so winzig ist, dass der Magen des Tiers nicht hineinpasst, weshalb er sich in die Beine ausdehnt, die wiederum riesig und geheimnisvoll sind, das heißt, die ein Geheimnis bargen (oder zumindest für ihn eins bargen), da die Seespinne acht Beine hat, vier an jeder Seite, und ein zusätzliches Paar deutlich kleinerer, ja sehr viel kleinerer und nutzloser Beine, die dem Kopf am nächsten sitzen, und diese Beine oder winzigen Beinchen sahen für den jungen Reiter nicht wie Beine oder Beinchen aus, sondern wie Hände, als hätte die Seespinne in einem langen evolutionären Prozess endlich zwei Arme und daran zwei Hände ausgebildet, wüsste aber noch gar nichts davon. Wie lange würde es dauern, bis die Seespinne merkte, dass sie Hände hatte?
    »Wahrschich tausjahr«, sagte der junge Reiter laut, »oder zwotausjahr oder zehtausjahr. Ngezeit.«
    Und so bummelte er zur Schule im Dorf der Geschwätzigen Mädchen und kam, wie man sich denken kann, immer zu spät. War außerdem mit den Gedanken immer woanders.
    1933 bestellte der Schuldirektor Hans Reiters Eltern ein. Die Einäugige ging allein hin. Der Direktor bat sie in sein Büro und eröffnete ihr in knappen Worten, dass der Junge zum Lernen nicht befähigt sei. Dann breitete er die Arme aus, wie um den Inhalt seiner Worte herunterzuspielen, und empfahl, ihn in irgendeine Lehre zu geben.
    Das war im Jahr, als Hitler siegte. In dem Jahr, bevor er siegte, kam ein Wahlkampfkomitee durch das Dorf von Hans Reiter. Die Männer tauchten zuerst im Dorf der Geschwätzigen Mädchen auf, wo sie im Kino eine Versammlung abhielten, die ein Erfolg wurde, zogen dann am nächsten Tag weiter ins Schweinedorf, dann ins Eierdorf und erreichten am Nachmittag das Dorf von Hans Reiter, wo sie in der Kneipe zusammen mit den Bauern und Fischern Bier tranken und ihnen die gute Kunde vom Nationalsozialismus brachten, einer Partei, die dafür sorgen würde, dass sich Deutschland aus seiner Asche erhöbe, dass sich auch Preußen aus seiner Asche erhöbe, wobei eine lockere, entspannte Atmosphäre herrschte, bis jemand, sicher irgendein Großmaul, vom Einbeinigen erzählte, dem Einzigen, der lebend von der Front heimgekehrt sei, ein Held, ein harter Knochen, ein Preuße von echtem Schrot und Korn, höchstens ein bisschen faul, ein Mann vom Land, der Geschichten vom Krieg erzählte, dass es einem kalt den Rücken runterlief, Geschichten, die er selbst erlebt hatte, darauf legten die Dorfleute Wert, die er persönlich erlebt hatte, wahre Geschichten also, die aber nicht nur wahr waren, sondern von dem, der sie erzählte, auch selbst erlebt, woraufhin einer aus der Gruppe sagte, einer, der aussah wie ein feiner Herr (man muss das betonen, weil seine Begleiter ganz und gar nicht aussahen wie feine Leute, sondern wie sehr gewöhnliche Leute, Leute, die gern ihr Bier tranken und Fisch und Wurst aßen, die furzten und lachten und Lieder sangen, nein, noch einmal, diese Leute sahen nicht besonders fein aus, im Gegenteil, sie sahen aus wie Leute vom Dorf, wie Händler, die von Dorf zu Dorf ziehen, die dem Dorf entspringen, die in dörflicher Umgebung leben und deren Erinnerung sich bei ihrem Tod in der Erinnerung des Dorfes verliert), dass es vielleicht, nur vielleicht, interessant sein könnte, den Soldaten Reiter kennenzulernen, und fragte dann, warum ausgerechnet der Soldat Reiter nicht hier, in der Kneipe, säße, um sich mit den nationalsozialistischen Kameraden zu unterhalten, die nur das Beste für Deutschland wollten, und einer der Dörfler, einer, der ein einäugiges

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