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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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völlig allein und fast ohne jemandem zur Last zu fallen, wo er sich für unbestimmte Zeit in der Bibliothek verkroch, las und Cognac trank, bis er in einem Sessel einschlief.
    Manchmal kam auch die Tochter des Barons, aber ihre Besuche waren kurz, währten nie länger als ein Wochenende, wenngleich diese Wochenenden sich für die Dienerschaft wie Monate anfühlten, denn die Tochter des Barons kam nie allein, sondern mit einem Gefolge von Freunden, zuweilen mehr als zehn, alle leichtlebig, alle unersättlich, alle unordentlich, die das Haus in ein lautstarkes Chaos verwandelten, da sich ihre täglichen Feste bis in die Morgenstunden ausdehnten.
    Zuweilen fiel die Ankunft der Tochter des Barons mit einem Aufenthalt seines Neffen zusammen, der dann allen Bitten seiner Cousine zum Trotz fast auf der Stelle das Haus verließ, oft nicht einmal die von einem Percheron gezogene Kalesche abwartete, die ihn sonst zur Bahnstation im Dorf der Geschwätzigen Mädchen brachte.
    Die Ankunft seiner Cousine hatte bei dem ohnehin scheuen Neffen des Barons eine Art der Erstarrung und Blödigkeit zur Folge, die bei den Bediensteten, wenn sie die Ereignisse des Tages besprachen, auf das einhellige Urteil stieß: Der Junge vergötterte sie oder liebte sie oder würde für sie sterben oder litt um sie, Ansichten, die der junge Hans Reiter mit übereinandergeschlagenen Beinen, ein Butterbrot kauend, mit anhörte, ohne sich dazu zu äußern, obwohl er eigentlich den Neffen des Barons, der Hugo Halder hieß, viel besser kannte als die übrigen Bediensteten, die aber für die Wirklichkeit blind zu sein schienen oder nur sahen, was sie sehen wollten, nämlich einen in Liebe schmachtenden Waisenknaben, eine frivole Waise (obwohl die Tochter des Barons Vater und Mutter hatte, wie alle genau wussten) und die Aussicht auf eine unbestimmte, verworrene Erlösung.
    Eine Erlösung, die nach torfigem Rauch roch, nach Kohlsuppe, nach Wind im unwegsamen Dickicht des Waldes. Eine Erlösung, die nach Spiegel roch, dachte der junge Reiter und hätte sich fast an seinem Butterbrot verschluckt.
    Und warum kannte der junge Reiter den zwanzigjährigen Hugo Halder besser als die übrigen Bediensteten? Aus einem einfachen Grund. Oder aus zwei einfachen Gründen, die, ineinander verschränkt oder verwoben, ein kompletteres und auch komplizierteres Porträt des Neffen ergaben.
    Erster Grund: Er hatte ihn in der Bibliothek gesehen, während er mit dem Staubwedel über die Bücher ging, er hatte von der obersten Stufe der Bibliotheksleiter den schlafenden Neffen des Barons gesehen, schnaufend oder schnarchend, vor sich hin murmelnd, aber nicht ganze Sätze, wie die süße Lotte das immer tat, sondern Einsilbiges, Wortfetzen, Fluchpartikel, in die Enge getrieben, als ginge es ihm im Traum an den Kragen. Er hatte außerdem die Titel der Bücher gesehen, die der Neffe des Barons las. Es waren in der Mehrheit Geschichtsbücher, was bedeutete, dass der Neffe des Barons Geschichte liebte oder sich für Geschichte interessierte, was der junge Reiter im ersten Moment abstoßend fand. Die ganze Nacht hindurch Cognac trinken, rauchen und Geschichtsbücher lesen. Abstoßend. Was ihn veranlasste, sich zu fragen: Und dafür die ganze Schweigerei? Und er hatte seine Worte gehört, wenn irgendein Geräusch ihn geweckt hatte, eine huschende Ratte, das leise Schaben, das ein ledergebundenes Buch verursacht, wenn es an seinen Platz zwischen zwei anderen Büchern zurückgeschoben wird, Worte völliger Verwirrung, als hätte es die Welt aus den Angeln gehoben, Worte eines Verwirrten, nicht eines Verliebten, Worte eines Leidenden, Worte, die aus einer Falle hervorsprangen.
    Der zweite Grund besaß noch mehr Gewicht. Der junge Hans Reiter war, koffertragend, Hugo Halder bei einer der nicht seltenen Gelegenheiten gefolgt, da dieser angesichts des plötzlichen Einfalls seiner Cousine beschlossen hatte, in höchster Eile das Landhaus zu verlassen. Um vom Landhaus zur Bahnstation im Dorf der Geschwätzigen Mädchen zu gelangen, gab es zwei Routen. Die eine, längere führte durch das Schweinedorf und das Eierdorf und stellenweise an den Klippen und am Meer entlang. Die andere, sehr viel kürzere folgte einem Weg, der einen riesigen Wald von Eichen, Buchen und Pappeln teilte und bei den Ausläufern des Dorfs der Geschwätzigen Mädchen, an einer verlassenen Konservenfabrik, unweit des Bahnhofs, wieder herauskam.
    Folgendes Bild: Hugo Halder geht Hans Reiter voraus, den Hut in der Hand, und

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