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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Krankenschwestern, eine Atmosphäre der Solidarität, der Unbeugsamkeit und Tapferkeit, selbst eine Gruppe belgischer Nonnen habe ein hohes Maß an Pflichtgefühl bewiesen, kurz, alle hätten dazu beigetragen, den Aufenthalt der Verwundeten so angenehm wie möglich zu machen, im Rahmen des Erwartbaren, versteht sich, schließlich sei ein Lazarett kein Vergnügungslokal oder Freudenhaus, und dann wechselten sie zu anderen Themen wie der Errichtung des Großdeutschen Reiches, dem Aufbau eines Hinterlandes, der Säuberung der staatlichen Institutionen, der die Säuberung der ganzen Nation folgen müsse, der Schaffung neuer Arbeitsplätze, dem Kampf um Modernisierung, und während der Flieger so sprach, wurde Hans Reiters Vater immer nervöser, als fürchtete er, die kleine Lotte könne jeden Moment anfangen zu weinen oder als würde ihm schlagartig bewusst, dass er nicht der richtige Gesprächspartner war für diesen Kerl, der sich als feiner Herr gerierte, und als wäre es das Beste, er würde sich diesem Träumer, diesem Zenturio der Lüfte, zu Füßen werfen und sich des längst Offensichtlichen anklagen, seiner Ignoranz und Armut und verlorenen Mannhaftigkeit, aber er tat nichts von all dem, sondern bewegte bei jedem Wort des anderen den Kopf, als wäre er nicht überzeugt (in Wirklichkeit war er starr vor Schreck), als hätte er Mühe, das volle Ausmaß seiner Träume zu begreifen (in Wirklichkeit begriff er nicht das Geringste), bis plötzlich beide, der ehemalige Flieger, der sich als feiner Herr gerierte, und er, den jungen Hans Reiter hereinkommen sahen, der wort- und grußlos seine Schwester aus der Wiege und mit sich hinaus in den Hof nahm.
    »Wer ist das denn?«, fragte der ehemalige Flieger.
    »Mein Ältester«, sagte der Einbeinige.
    »Sieht aus wie ein Giraffenfisch«, sagte der ehemalige Flieger und lachte.
    1933 ging Hans Reiter also von der Schule ab, weil ihm seine Lehrer mangelndes Interesse und unentschuldigtes Fehlen vorwarfen, was durchaus zutraf, woraufhin seine Eltern und Verwandten ihm eine Stelle auf einem Fischkutter besorgten, dessen Eigner ihn nach drei Monaten davonjagte, weil der junge Reiter mehr daran interessiert war, ins Meer zu starren, als beim Auswerfen der Netze zu helfen, dann bekam er Arbeit als Landarbeiter, wurde aber nach kurzer Zeit erneut wegen Faulheit hinausgeworfen, dann als Torfstecher und als Lehrling in einer Eisenwarenhandlung im Dorf der Dicken Männer, dann als Gehilfe bei einem Bauern, der sein Gemüse bis nach Stettin verkaufte und ihn ebenfalls entließ, weil er mehr eine Last als eine Hilfe war, bis man ihn schließlich zum Arbeiten in das Landhaus eines preußischen Barons schickte, das mitten in einem Wald an einem See mit pechschwarzem Wasser lag, in dem schon die Einäugige arbeitete, die dort die Möbel und Gemälde und die riesigen Vorhänge und Gobelins und sämtliche Säle von Staub befreite, von denen jeder einen geheimnisvollen Namen trug, der an die Stufen einer geheimen Sekte erinnerte, Säle, in denen sich unvermeidlich der Staub sammelte, die man außerdem lüften musste, damit der Geruch nach Feuchtigkeit und Verwahrlosung verflog, der sich nach einiger Zeit in ihnen ausbreitete, die außerdem die Bücher in der riesigen Bibliothek des Barons abstaubte, der nur selten eines davon las, alte Bücher, die der Vater des Barons gehütet hatte und die ihm der Großvater des Barons vermacht hatte, anscheinend der Einzige in der ganzen großen Familie, der Bücher gelesen und seinen Nachkommen die Liebe zu Büchern eingeimpft hatte, eine Liebe, die sich nicht in der Lektüre, aber doch in der Bewahrung der Bibliothek niederschlug, die noch genauso bestand, nicht kleiner und nicht größer, wie der Großvater des Barons sie hinterlassen hatte.
    Und Hans Reiter, der in seinem ganzen Leben nicht so viele Bücher auf einem Haufen gesehen hatte, befreite eins nach dem anderen von Staub, ging achtsam mit ihnen um, las sie aber ebenfalls nicht, teils weil er an seinem Buch über die Unterwasserwelt schon genug hatte, teils weil er das plötzliche Auftauchen des Barons fürchtete, der als seltener Gast das Landhaus besuchte, eingespannt wie er war in die Berliner und Pariser Staatsaffären, wogegen von Zeit zu Zeit sein Neffe auftauchte, Sohn der früh verstorbenen Schwester des Barons und eines Malers, mittlerweile in Südfrankreich lebend, den der Baron hasste, und dieser Neffe, ein Bursche um die Zwanzig, verbrachte regelmäßig eine Woche in dem Landhaus,

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