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ihm.
Wenn man den Begriff nur weit genug auslegte, könnte man sagen, dass Halder der erste Freund war, den Hans Reiter hatte. Bei jedem seiner Besuche im Landhaus verbrachte er mehr Zeit mit ihm, mal zurückgezogen in der Bibliothek, mal flanierend und plaudernd im das Anwesen umgebenden Park.
Auch war Halder der Erste, der ihn dazu brachte, etwas anderes zu lesen als das Buch Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten. Das war gar nicht leicht. Zuerst fragte Halder, ob er lesen könne. Hans Reiter bejahte. Dann fragte er, ob er schon einmal ein gutes Buch gelesen habe. Er betonte »gutes«. Hans Reiter bejahte. Er besäße ein gutes Buch. Halder fragte, welches das sei. Hans Reiter sagte, es heiße Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten. Halder sagte, das sei sicher ein gutes populärwissenschaftliches Buch, er habe aber an ein gutes literarisches Buch gedacht. Hans Reiter sagte, er wisse nicht, was der Unterschied sei zwischen einem guten pulärwissentlichen Buch und einem guten liarischen Buch. Halder sagte, der Unterschied bestehe in der Schönheit, in der Schönheit der Geschichte und in der Schönheit der Sprache, in der sie geschrieben sei. Dann fing er an, ihm Beispiele zu geben. Er erzählte von Goethe und Schiller, erzählte von Hölderlin und Kleist, erzählte Wunderdinge von Novalis. Er sagte, er habe all diese Autoren gelesen, und jedes Mal, wenn er sie wiederlese, müsse er weinen.
»Weinen«, sagte er, »weinen, verstehst du, Hans?«
Worauf Hans Reiter erwiderte, dass er ihn nie mit einem Buch dieser Autoren gesehen habe, immer nur mit Büchern über Geschichte. Halders Antwort kam für ihn überraschend. Halder sagte:
»Das ist, weil ich schwach in Geschichte bin und das nachholen muss.«
»Warum?«, fragte Hans Reiter.
»Um die Untiefen meiner Bildung einzuebnen.« »Untiefen lassen sich nicht einebnen«, sagte Hans Reiter.
»Lassen sie sich doch«, sagte Halder, »wenn man sich ein bisschen Mühe gibt, lässt sich alles auf der Welt einebnen. Als ich so alt war wie du«, sagte Halder, eine offensichtliche Übertreibung, »habe ich bis zum Umfallen Goethe gelesen, obwohl Goethe natürlich unendlich ist, na ja, ich habe Goethe gelesen, Eichendorff, Hoffmann und habe dabei meine Geschichtskenntnisse vernachlässigt, die auch wichtig sind, um, wie man sagt, das Messer auf beiden Seiten zu schärfen.«
Später, als es schon dämmerte und sie das Feuer im Kamin prasseln hörten, versuchten beide, sich auf ein Buch zu einigen, das Hans Reiter als Erstes lesen sollte, kamen aber zu keinem Ergebnis. Endlich, als die Nacht hereinbrach, sagte Halder, er solle sich irgendein Buch nehmen und es ihm in einer Woche zurückbringen. Der junge Diener stimmte ihm zu, dass das die beste Lösung sei.
Schon bald weiteten sich die kleinen Räubereien aus, die der Neffe des Barons im Landhaus verübte, Grund dafür waren nach eigener Aussage Spielschulden und unabdingbare Verpflichtungen gegenüber gewissen Damen, die er nicht im Stich lassen durfte. Halders Ungeschick beim Vertuschen seiner Diebstähle war unerhört, und der junge Hans Reiter entschloss sich, ihm zu helfen. Damit niemand die entwendeten Dinge vermisste, schlug er Halder vor, das übrige Personal mit willkürlichen Umräumaktionen zu beauftragen, sie Zimmer unter dem Vorwand des Lüftens ausräumen, alte Truhen aus dem Keller heraufholen und später wieder zurücktragen zu lassen. Mit einem Wort: Die Ordnung der Sachen zu verändern.
Er schlug außerdem vor, und ging ihm tatkräftig zur Hand, sich auf Raritäten zu konzentrieren, auf den Diebstahl wirklich alter und darum vergessener Antiquitäten: Scheinbar wertlose Diademe, die seiner Ur- oder Ururgroßmutter gehört hatten, Spazierstöcke aus edlem Holz mit Silberknauf, Degen, die seine Vorfahren in den Napoleonischen Kriegen oder gegen Dänen und Österreicher benutzt hatten.
Halder war ihm gegenüber übrigens immer großzügig. Bei jedem neuerlichen Besuch steckte er ihm zu, was er seinen Anteil an der Beute nannte, tatsächlich war es nicht mehr als ein etwas zu reichliches Trinkgeld, für Hans Reiter aber bedeutete es ein Vermögen. Von diesem Vermögen verriet er seinen Eltern natürlich nichts, sie hätten ihn sofort einen Dieb gescholten. Auch kaufte er davon nichts für sich. Er besorgte sich eine Keksdose, in die er die wenigen Scheine und vielen Münzen hineinlegte, schrieb noch auf einen Zettel »Dieses Geld gehört Lotte Reiter« und vergrub alles im Wald.
Wie es der
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