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Zufall oder der Teufel wollte, war das Buch, das Hans sich ausgesucht hatte, der Parzival von Wolfram von Eschenbach. Als Halder ihn mit dem Buch sah, lächelte er und sagte, er werde es nicht verstehen, sagte aber auch, dass es ihn gar nicht wundere, dass er sich dieses und kein anderes Buch ausgesucht habe, sagte, dass dieses Buch, auch wenn er es niemals verstehen werde, haargenau zu ihm passe, so wie Wolfram von Eschenbach auch der Autor sei, in dem er eine ganz klare Ähnlichkeit mit sich selbst finden werde, oder mit seiner Geistesart oder damit, wie er gern wäre und leider Gottes niemals sein würde, obwohl ihm dazu nur eine solche Winzigkeit fehle, sagte Halder und zeigte einen schmalen Spalt zwischen Daumen und Zeigefinger.
Wolfram, erfuhr Hans, sagte von sich selbst: Mit Gelehrsamkeit hab ich nichts im Sinn. Wolfram, erfuhr Hans, bricht mit dem Archetyp des höfischen Ritters, und die Ausbildung, die Klosterschule, bleibt ihm versagt (oder versagt er sich selbst). Wolfram, erfuhr Hans, lehnt im Gegensatz zu den anderen Troubadouren und Minnesängern den Minnedienst ab. Wolfram, erfuhr Hans, behauptet von sich, kein Wissen und kein Können aus Büchern zu besitzen, nicht, damit man ihn für ungebildet hält, sondern um auszudrücken, dass er frei sei von der Bürde lateinischer Bildung, ein Laiendichter und freier Ritter. Laizistisch und frei.
Selbstverständlich gab es bedeutendere mittelalterliche Dichter als Wolfram von Eschenbach. Friedrich von Hausen war einer, Walther von der Vogelweide ein anderer. Aber Wolframs Stolz (Aus den Büchern hab ich nichts, kein Wissen und kein Können), ein Stolz der kalten Schulter, ein Stolz, der sagte: Sterbt Ihr, ich werde leben, verleiht ihm eine Aura aus atemberaubendem Geheimnis und gnadenloser Gleichgültigkeit, die Hans anzog wie ein riesiger Magnet einen schlanken Nagel.
Wolfram besaß keinen Grundbesitz. Wolfram war daher auf den Vasallendienst verwiesen. Wolfram hatte Gönner, Fürsten, die ihren Vasallen, oder wenigstens einigen ihrer Vasallen, Sichtbarkeit zugestanden. Wolfram sagte: Ritterdienst ist mein Beruf Und während Halder ihm all diese Dinge über Wolfram erzählte, um ihn, sagen wir, an den Ort des Verbrechens zu versetzen, las Hans den Parzival von Anfang bis Ende durch, manchmal laut, wenn er auf dem Feld war oder auf dem Weg zur Arbeit, und nicht nur verstand er ihn, er gefiel ihm auch. Und was ihm am meisten gefiel, was ihn zu Tränen rührte und veranlasste, sich vor Lachen im Gras zu wälzen, war, dass Parzival gelegentlich sein Pferd bestieg (Ritterdienst ist mein Beruf), unter seiner Rüstung aber sein Narrenkleid trug.
Die in Hugo Halders Gesellschaft verbrachten Jahren schlugen zu seinem Vorteil aus. Die Räubereien setzten sich fort, manchmal in schneller, dann wieder in verlangsamter Folge, schon deswegen, weil es im Haus schon nicht mehr viel gab, was man klauen konnte, ohne dass Hugos Cousine und die übrigen Bediensteten es merkten. Nur einmal erschien der Baron auf seinen Gütern. Er kam in einer schwarzen Kutsche mit zugezogenen Gardinen und blieb über Nacht.
Hans nahm an, er werde den Baron sehen und dieser ihn vielleicht ansprechen, aber nichts dergleichen geschah. Der Baron blieb nur eine einzige Nacht im Landhaus, während der er mit beharrlichem Schritt (und in beharrlichem Schweigen) durch den am stärksten verwahrlosten Flügel des Hauses lief, ohne die Dienerschaft zu bemühen, als würde er träumen und könnte sich mit niemandem sprachlich verständigen. Zur Nacht aß er Schwarzbrot mit Käse, ging selbst in den Keller, um sich eine Flasche Wein zu holen, entkorkte und trank sie zu seinem frugalen Mahl. Am nächsten Morgen verschwand er noch vor Tagesanbruch.
Die Tochter des Barons sah er dagegen oft. Stets in Begleitung ihrer Freunde. Solange Hans dort arbeitete, war es dreimal vorgekommen, dass ihr Eintreffen sich mit einem Aufenthalt von Halder kreuzte, der, in Gegenwart seiner Cousine aufs äußerste befangen, in allen drei Fällen sofort die Koffer gepackt und das Weite gesucht hatte. Beim letzten Mal, auf dem Weg durch den Wald, der gewissermaßen ihre Komplizenschaft besiegelte, fragte ihn Hans, was ihn so nervös mache. Halder antwortete knapp und mürrisch. Das würde er nicht verstehen, sagte er und setzte seinen Weg unter dem Blätterdach fort.
1936 schloss der Baron das Landhaus und entließ alle Bediensteten mit Ausnahme eines Waldhüters. Eine Zeitlang tat Hans gar nichts, dann verstärkte er die
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