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sie. Ein Mantel, zwei Paar Schuhe, ein Wollschal, vier Hemden, mehrere Unterhemden, sieben Paar Socken. Füchlers Rasiermesser schenkte er dem Hausbesitzer. In einer Kiste unter dem Bett fand er etliche Cowboyromane. Die behielt er für sich.
Von nun an besaß Hans Reiter viel mehr Zeit für sich. Nachts arbeitete er, schritt den gepflasterten Hof der Fabrik ab, die kalten Flure und langgezogenen Säle mit den großen Fensterfronten für größtmögliche Sonnenlichtausbeute, frühstückte morgens noch an irgendeinem Stand in seinem Arbeiterviertel, schlief dann seine vier bis sechs Stunden und hatte den restlichen Tag frei, um mit der Straßenbahn in die Innenstadt zu fahren und bei Halder vorbeizuschauen, mit dem er spazieren ging oder in Cafés und Restaurants saß, wo der Neffe des Barons jedes Mal Bekannte traf, denen er Geschäfte vorschlug, auf die nie einer einging.
Damals wohnte Hugo Halder in einer Seitengasse der Himmelstraße, in einer kleinen Wohnung voller alter Möbel und mit verstaubten Gemälden an den Wänden. Sein bester Freund, abgesehen von Hans, war ein Japaner, der als Sekretär des Landwirtschaftsattachés an der japanischen Gesandtschaft tätig war. Der Japaner hieß Noburo Nisamata, aber Halder und auch Hans nannten ihn Nisa. Er war achtundzwanzig, besaß einen umgänglichen Charakter und die Bereitschaft, sich für die einfältigsten Witze zu begeistern und den abstrusesten Hirngespinsten Gehör zu schenken. In der Regel trafen sie sich im Café Steinerne Jungfrau, wenige Schritte vom Alexanderplatz entfernt, wo Halder und Hans immer die Ersten waren und irgendeine Kleinigkeit aßen, Würstchen mit Sauerkraut, bis ein oder zwei Stunden später der Japaner eintrudelte, tadellos gekleidet, und alle rasch noch einen Whisky ohne Wasser und Eis tranken, bevor sie im Laufschritt das Lokal verließen und sich im Berliner Nachtleben verloren.
Dort übernahm Halder das Kommando. Im Taxi fuhren sie ins Eklipse, ein Varieté, in dem die schlechtesten Revuetänzerinnen von ganz Berlin auftraten, eine Truppe untalentierter alter Frauen, die mit der unverhüllten Darbietung ihres Scheiterns Erfolge feierten, und wo man sich trotz des Gelächters und der Pfiffe, sofern man nur einen Kellner gut genug kannte, damit dieser einem abseits einen Tisch besorgte, fast problemlos unterhalten konnte. Zudem war das Eklipse ein billiges Lokal, obgleich Geld in diesen Nächten Berlinischer Ausschweifungen für Halder ohne Belang war, unter anderem deswegen, weil der Japaner alles bezahlte. Dann, schon hochgestimmt, fuhren sie für gewöhnlich ins Künstlercafé, wo es kein Varieté, dafür aber den einen oder anderen reichsdeutschen Maler zu bestaunen gab, und man konnte, was Nisa besonders freute, mit diesen Berühmtheiten, von denen Halder etliche seit langem kannte, einige sogar duzte, an einem Tisch sitzen.
Vom Künstlercafé ging es um drei Uhr früh meist in die Blaue Donau - ein nobles Revuetheater mit sehr langbeinigen, sehr schönen Tänzerinnen, in dem Türsteher oder Oberkellner öfters Schwierigkeiten machten, bevor sie Hans einließen, da er, bettelarm, mit seiner Garderobe nicht der geforderten Etikette genügte. Unter der Woche verließ Hans seine Freunde übrigens schon um zehn und lief zur Straßenbahnhaltestelle, um rechtzeitig seinen Nachtwächterposten anzutreten. In jenen Tagen saßen sie bei schönem Wetter stundenlang auf der Terrasse eines schicken Restaurants und sprachen über die Erfindungen, die Halder durch den Kopf gingen. Wenn er eines Tages Zeit hätte, schwor er, würde er sie patentieren lassen und reich werden, was den Japaner zu seltsamen Heiterkeitsausbrüchen reizte. Nisas Lachen hatte etwas Hysterisches: Er lachte nicht nur mit den Lippen, den Augen und der Kehle, sondern auch mit den Händen, dem Hals und den Füßen, die am Boden kleine Stepptänze vollführten.
Einmal, nachdem er ihnen die Nützlichkeit einer Maschine zur Erzeugung künstlicher Wolken erklärt hatte, fragte Halder Nisa unvermittelt, ob es stimme, was er über seine Aufgabe in Deutschland gesagt habe, oder ob er für den Geheimdienst arbeite. Die Frage traf Nisa unvorbereitet, und er verstand sie auch erst gar nicht. Dann, als Halder ihm allen Ernstes die Aufgabe eines Geheimagenten erklärte, erlitt Nisa einen Lachanfall, wie Hans in seinem Leben noch keinen erlebt hatte, so heftig, dass er plötzlich ohnmächtig über dem Tisch zusammenbrach, und er und Halder mussten ihn eilig zur Toilette schleifen, wo
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