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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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sah aus wie ein Heeresgeneral. Der andere sah aus wie ein verkleideter Ulan oder Husar. Beide sahen sich an und lachten, erst der General, dann der Ulan, und so immer fort, als verstünden sie nichts oder als verstünden sie etwas, wovon keiner der auf dem Hügel versammelten Stabsoffiziere etwas wusste. Am Fuß des Hügels standen drei Autos, daneben rauchend die Fahrer und im Innern eines der Wagen saß eine sehr schöne, sehr elegant gekleidete Frau, die, zumindest kam es Reiter so vor, große Ähnlichkeit mit der Tochter des Barons von Zumpe hatte, dem Onkel von Hugo Halder.
    Das erste richtige Gefecht, an dem Reiter teilnahm, ereignete sich in der Umgebung von Kutno, wo die Polen nur mit wenigen, schlecht bewaffneten Leuten standen, die aber keine Anstalten machten, sich zu ergeben. Das Treffen währte nicht lange, denn am Ende stellte sich heraus, dass die Polen sich doch lieber ergeben wollten und nur nicht wussten, wie man das anstellte. Reiters Sturmtrupp griff eine Scheune und ein Waldstück an, in dem der Feind die Reste seiner Artillerie zusammengezogen hatte. Als Hauptmann Gercke ihn gehen sah, dachte er, Reiter werde wahrscheinlich sterben. Er hatte den Eindruck, eine Giraffe inmitten eines Rudels Wölfe, Kojoten und Hyänen davonziehen zu sehen. Reiter war so groß, dass jeder polnische Rekrut, selbst der größte Trottel, sich automatisch ihn als Ziel aussuchen würde.
    Beim Angriff auf die Scheune starben zwei deutsche Soldaten, und es gab fünf Verletzte. Beim Angriff auf das Waldstück starb ein dritter deutscher Soldat, drei weitere wurden verletzt. Reiter blieb unversehrt. Der Unteroffizier, der die Gruppe befehligte, sagte in der Nacht zu seinem Hauptmann, Reiter habe, weit davon entfernt, als Zielscheibe zu dienen, die Verteidiger auf irgendeine Weise eingeschüchtert. Auf welche Weise? fragte der Hauptmann. Indem er schrie? Beleidigungen ausstieß? Rücksichtslos vorging? Hatte er sie etwa erschreckt, indem er sich während des Kampfs in jemand anders verwandelte? In einen furcht- und mitleidlosen Germanenkrieger? Oder vielleicht in einen Jäger, das Urbild des Jägers, das wir alle in uns tragen, listig, schnell, der Beute immer um einen Schritt voraus?
    Der Unteroffizier dachte nach und antwortete dann, nein, das treffe es nicht genau. Reiter, sagte er, sei anders gewesen, eigentlich derselbe wie immer, den alle kannten, nur dass er eben in den Kampf gegangen sei, als ginge es nicht in den Kampf, als wäre er nicht dort oder als ginge ihn die Angelegenheit nichts an, was nicht heiße, dass er Befehle missachtet oder nicht ausgeführt habe, das sicher nicht, auch nicht, dass er in Trance gewesen sei, einige von Angst wie gelähmte Soldaten fallen in Trance, aber das ist keine Trance, nur Angst, kurz, dass er, der Unteroffizier, es nicht wisse, aber dass Reiter etwas an sich habe, das sogar die Feinde spürten, die mehrmals auf ihn geschossen hätten, ohne ihn zu treffen, was sie immer nervöser machte.
    Die 79. Division kämpfte weiter in der Umgebung von Kutno, aber Reiter nahm an keinem anderen Gefecht mehr teil. Noch vor Ende September wurde die gesamte Division, diesmal per Eisenbahn, an die Westfront verlegt, wo sich bereits das übrige X. Armeekorps befand.
    Von Oktober 1939 bis Juni 1940 rührten sie sich nicht vom Fleck. Vor ihnen lag die Maginot-Linie, die sie jedoch von ihren Verstecken in Wäldern und Obstwiesen aus nicht sehen konnten. Es war ein beschauliches Leben: Die Soldaten hörten Radio, aßen, tranken Bier, schrieben Briefe, schliefen. Einige sprachen von dem Tag, an dem sie auf die Betonfestungen der Franzosen würden losmarschieren müssen. Die, die ihnen zuhörten, lachten nervös, rissen Witze, erzählten Geschichten von zu Hause.
    Eines Abends sagte jemand, Dänemark und Norwegen hätten kapituliert. In dieser Nacht träumte Hans von seinem Vater. Er sah den Einbeinigen, in seinen alten Militärmantel gehüllt, wie er auf die Ostsee hinausschaute und sich fragte, wo sich Preußens Insel verbarg.
    Manchmal trat Hauptmann Gercke zu ihm, um eine Weile mit ihm zu plaudern. Der Hauptmann fragte, ob er Angst vor dem Tod habe. Was Sie für Fragen stellen, Herr Hauptmann, sagte Reiter, natürlich habe ich Angst. Wenn er ihm auf diese Weise antwortete, schaute ihn der Hauptmann lange an und sagte dann leise, als redete er mit sich selbst:
    »Verfluchter Lügner, mir machst du nichts vor, mich täuschst du nicht. Du hast vor nichts Angst!«
    Danach sprach der Hauptmann mit

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