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Hoffnung, irgendwann den Ausgang zu finden. Er verließ den Sektor Jules und betrat den Sektor Claudine. Es folgten die Sektoren Émile, Marie, Jean-Pierre, Bérénice, André und Silvia. Dort angekommen, machte der Soldat eine Entdeckung (die andere sehr viel früher gemacht hätten), er stellte nämlich verwundert fest, dass sich die Gänge in einem nahezu makellosen Zustand befanden. Daraufhin begann er sich Gedanken über ihren Nutzen zu machen, ihren militärischen Nutzen, und kam zu dem Schluss, dass sie gar keinen besaßen und hier unten wahrscheinlich noch nie Soldaten gewesen waren.
In diesem Moment glaubte der Soldat, er habe den Verstand verloren oder, schlimmer noch, er sei tot und dies seine ganz persönliche Hölle. Erschöpft und ohne Hoffnung legte er sich hin und schlief ein. Er träumte von Gott. Er selbst lag schlafend unter einem Apfelbaum im Elsässischen, als ein Landedelmann zu ihm trat und ihn mit einem leichten Stockschlag ans Bein weckte. Ich bin Gott, sagte er, wenn du mir deine Seele verkaufst, die ja ohnehin mir gehört, hole ich dich aus den Tunneln heraus. Lass mich schlafen, sagte der Soldat und versuchte weiterzuschlafen. Ich sagte, deine Seele gehört mir ohnehin schon, hörte er Gottes Stimme sagen, also stell dich nicht noch bäurischer an, als du von Natur aus bist, und geh auf mein Angebot ein.
Daraufhin wachte der Soldat auf und sah Gott an und fragte, wo er unterschreiben solle. Hier, sagte Gott und zog ein Papier aus der Luft. Der Soldat versuchte den Vertrag zu lesen, aber der war in einer fremden Sprache abgefasst, weder auf Deutsch noch auf Englisch oder Französisch, da war er sich sicher. Und womit unterschreibe ich? fragte der Soldat. Mit deinem Blut, wie es sich gehört, erwiderte Gott. Da holte der Soldat sein Taschenmesser hervor und ritzte sich die linke Handfläche, tauchte dann den Zeigefinger ins Blut und unterschrieb.
»Gut, jetzt kannst du weiterschlafen«, sagte Gott.
»Ich möchte schnell aus dem Tunnel heraus«, bat der Soldat.
»Alles geschieht wie geplant«, sagte Gott, wandte sich ab und begann auf einem Feldweg in ein Tal hinabzusteigen, in dem ein Dorf lag, dessen Häuser grün und weiß und hellbraun gestrichen waren.
Der Soldat hielt es für angebracht, ein Gebet zu sprechen. Er faltete die Hände und hob die Augen zum Himmel. Da bemerkte er, dass alle Äpfel am Baum vertrocknet waren. Sie sahen jetzt aus wie Rosinen oder besser gesagt wie Backpflaumen. Gleichzeitig hörte er ein Geräusch, das leicht metallisch klang.
»Was passiert da?«, rief er.
Aus dem Tal stiegen lange, schwarze Rauchwolken auf, die in einer bestimmten Höhe verharrten. Eine Hand fasste ihn an der Schulter und schüttelte ihn. Es waren Soldaten seiner Kompanie, die im Sektor Bérénice hinunter in den Tunnel gestiegen waren. Der Soldat weinte vor Glück, nicht sehr, gerade so viel, um sich abzureagieren.
Am Abend erzählte er beim Essen seinem besten Freund von dem Traum, den er im Tunnel gehabt hatte. Der sagte, es sei normal, in einer solchen Situation Unsinn zu träumen.
»Es war kein Unsinn«, antwortete der Soldat, »ich habe Gott im Traum gesehen, ihr habt mich gerettet, ich bin wieder bei euch, und trotzdem bin ich noch nicht wieder ganz ruhig.«
Dann korrigierte er sich und sagte mit unaufgeregterer Stimme:
»Ich fühle mich noch nicht wieder ganz sicher.«
Worauf der Freund erwiderte, dass sich in einem Krieg niemand ganz sicher fühlen könne. Und damit endete das Gespräch. Der Soldat ging schlafen. Sein Freund ging schlafen. Im Dorf kehrte Stille ein. Die Wachtposten steckten sich Zigaretten an. Vier Tage später ging der Soldat, der Gott seine Seele verkauft hatte, die Straße entlang und wurde von einem deutschen Auto angefahren und getötet.
Während der Stationierung seines Regiments in der Normandie ging Reiter regelmäßig und bei jeder Witterung an der Felsküste von Portbail unweit von Ollonde oder nördlich von Carteret schwimmen. Sein Bataillon war in der Ortschaft Besneville einquartiert. Morgens brach er auf, mit seinen Waffen und einem Tornister auf dem Rücken, in dem er Brot, Käse und eine halbe Flasche Wein verstaute, und lief zur Küste. Dort suchte er sich eine blickgeschützte Stelle, und nachdem er stundenlang nackt geschwommen und getaucht war, streckte er sich auf seinem Felsen aus, aß und trank und las in seinem Buch Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten.
Manchmal entdeckte er Seesterne, die er so lange betrachtete, wie es
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