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ihm seine Lungen erlaubten, und entschloss sich endlich, sie, kurz bevor er auftauchte, zu berühren. Einmal sah er ein Pärchen Felsengrundeln, Gobius paganellus, das in einem Algenwald herumirrte und denen er eine Weile folgte (der Algenwald erinnerte an das Haar eines toten Riesen), bis ihn eine seltsame, mächtige Angst erfasste und zum Auftauchen zwang, denn wäre er einen Moment länger unten geblieben, hätte die Angst ihn in die Tiefe gezogen.
Manchmal, wenn er dösend auf seinem feuchten Stein lag, fühlte er sich so wohl, dass er nie wieder zu seinem Bataillon zurückkehren wollte. Und mehrmals dachte er ernsthaft daran, zu desertieren, als Landstreicher in der Normandie zu leben, sich eine Höhle zu suchen, von der Barmherzigkeit der Bauern und gelegentlichen Diebstählen zu leben, die niemand anzeigte. Meine Augen würden das Tageslicht scheuen, dachte er, meine Kleider sich allmählich in Lumpen verwandeln, und am Ende würde ich nackt herumlaufen. Ich würde nie mehr nach Deutschland zurückkehren. Und eines Tages würde ich trunken vor Glück ertrinken und sterben.
Zu jener Zeit gab es in seiner Kompanie eine ärztliche Visite. Nach Ansicht des untersuchenden Arztes war Reiter im Großen und Ganzen kerngesund, ausgenommen seine Augen, die eine unnatürliche Rötung zeigten, über deren Ursache es für Reiter keinen Zweifel geben konnte: Die langen Tauchgänge mit offenen Augen in salzigem Wasser. Aber das sagte er dem Arzt nicht, aus Angst vor Strafe oder dem Verbot künftiger Ausflüge ans Meer. Damals wäre es Reiter wie ein Sakrileg vorgekommen, mit Taucherbrille zu tauchen. Taucheranzug ja, Taucherbrille entschieden nein. Der Arzt verschrieb ihm Augentropfen und sagte, er werde mit seinem Vorgesetzten sprechen, damit er einen Termin beim Augenarzt bekäme. Als er wieder ging, dachte der Arzt, wahrscheinlich ist dieser lange Lulatsch drogenabhängig, und das schrieb er auch in sein Tagebuch: Wie ist es möglich, dass sich in unserer Armee Morphiumsüchtige, Heroinsüchtige, Rauschgiftsüchtige aller Art tummeln? Wofür stehen sie? Sind sie ein Symptom oder eine neue Krankheit der Gesellschaft? Sind sie ein Spiegel unseres Schicksals oder der Hammer, der unseren Spiegel und unser Schicksal in Stücke schlägt?
Aber statt trunken vor Glück zu ertrinken und zu sterben, wurden die Freigänge eines Tages ohne Vorwarnung gestrichen, und Reiters Bataillon, das man in der Ortschaft Besneville einquartiert hatte, vereinigte sich mit den beiden anderen Bataillonen des Regiments 310, die in Saint-Sauveur-le-Vicomte und Bricquebec stationiert waren, und sie bestiegen einen Militärzug in Richtung Osten, der in Paris mit einem anderen Zug verkoppelt wurde, in dem das Regiment 311 angereist kam, und obwohl das dritte Regiment ihrer Division fehlte und wohl nie mehr zu ihnen stoßen würde, brachen sie zur west-östlichen Reise quer durch Europa auf, passierten Deutschland und Ungarn, und schließlich erreichte die 79. Division ihr neu es Ziel, Rumänien.
Einige Truppen bezogen nahe der Grenze zur Sowjetunion Stellung, andere an der neuen Grenze zu Ungarn. Hans' Bataillon blieb in den Karpaten stationiert. Das Hauptquartier der Division, die jetzt nicht mehr zum X., sondern zum neu formierten XLIX. Armeekorps gehörte, dem im Augenblick erst eine Division unterstand, befand sich in Bukarest, doch besuchte General Krüger, der neue Kommandeur, in Begleitung des früheren Oberst von Berenberg und jetzigen Generals von Berenberg, neuer Kommandant der 79. Division, von Zeit zu Zeit die Truppe, um sich nach dem Stand der Vorbereitungen zu erkundigen.
Reiter lebte jetzt fern des Meeres in den Bergen und hatte für den Moment jeden Gedanken an Desertion aufgegeben. In den ersten Wochen seines Rumänienaufenthalts sah er nur Soldaten seines eigenen Bataillons. Später sah er Bauern, die, als hätten sie Ameisen in Schultern und Beinen, ständig in Bewegung waren, die von hier nach dort gingen, mit Bündeln, in denen sie all ihre Habe trugen, und nur mit ihren Kindern sprachen, die wie Schafe oder Ziegen hinter ihnen hertrotteten. Die Dämmerungen in den Karpaten zogen sich endlos hin, doch machte der Himmel den Eindruck, als hinge er zu tief, wenige Meter nur über ihren Köpfen, und hinterließ bei den Soldaten ein Gefühl von Atemnot oder Beklemmung. Trotz allem verlief das tägliche Leben erneut geruhsam und unmerklich.
Eines Nachts wurden einige Soldaten seines Bataillons vor Tagesanbruch aus den Betten geholt,
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