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Stillsteht, weil es sich verloren weiß.
Aber Iwanow sagte, ach, die Liebe, und auch Ansky sagte auf seine Weise, ach, die Liebe. Und so suchte er in den folgenden Tagen unermüdlich nach Nadja Jureniewa und fand sie schließlich auch, wie sie in ihrem langen Ledermantel in einem der Hörsäle der Moskauer Universität saß, dasaß wie eine Waise, eine launische Waise, und den Litaneien oder Gedichten oder gereimten Lappalien eines Kitschpoeten (oder was auch immer!) lauschte, der während des Rezitierens ins Publikum schaute, sein albernes Manuskript in der Linken, auf das er ab und zu einen theatralischen und überflüssigen Blick warf, denn nicht zu übersehen war, dass er ein gutes Gedächtnis besaß.
Und Nadja Jureniewa erblickte Ansky und stand leise auf und verließ den Hörsaal, wo der lausige sowjetische Dichter (so unbedarft, einfältig, manieriert, verdruckst und affektiert wie ein mexikanischer Lyriker oder wie lateinamerikanische Lyriker überhaupt, armselige Gestalten, rachitisch und aufgeblasen) seine Verse über das Stahlkochen abspulte (mit der gleichen arroganten Ahnungslosigkeit, mit der lateinamerikanische Dichter über ihr Ego, ihr Alter, ihre Alterität schwafeln), und trat hinaus auf Moskaus Straßen, gefolgt von Ansky, der sich ihr nicht näherte, sondern immer rund fünf Meter hinter ihr blieb, eine Entfernung, die sich in dem Maße verkürzte, wie die Zeit verging und der Spaziergang sich ausdehnte. Nie verstand Ansky besser als damals - nie fröhlicher - den von Kasimir Malewitsch ins Leben gerufenen Suprematismus sowie Punkt eins seiner am 15. November 1920 in Witebsk unterzeichneten Unabhängigkeitserklärung, wo es heißt: »Die fünfte Dimension ist eingeführt.«
Im Jahr 1937 wurde Iwanow verhaftet.
Wieder wurde er lange verhört, dann steckte man ihn in eine Zelle ohne Licht und vergaß ihn. Der Mann, der ihn verhörte, hatte nicht die geringste Ahnung von Literatur, ihn interessierte vor allem, ob Iwanow sich mit Mitgliedern der trotzkistischen Opposition getroffen hatte.
Während der Zeit, die er in seiner Zelle saß, freundete sich Iwanow mit einer Ratte an, der er den Namen Nikita gab. Nachts, wenn die Ratte erschien, führte Iwanow lange Gespräche mit ihr. Anders, als man hätte meinen können, sprachen sie nicht über Literatur, erst recht nicht über Politik, sondern über ihre Kindheit. Iwanow erzählte der Ratte von seiner Mutter, an die er oft denken musste, und von seinen Geschwistern, vermied es aber, über seinen Vater zu sprechen. Die Ratte erzählte ihm ihrerseits in einem eben nur hingehauchten Russisch von der Moskauer Kanalisation, vom Himmel in der Kanalisation, an dem wegen detritischer Wucherungen oder unerklärlicher Phosphoreszenzbildung immer Sterne funkelten. Sie erzählte auch von der Behaglichkeit ihrer Mutter, von den unsinnigen Streichen ihrer Schwestern und dem tollen Gelächter, zu dem ihre Streiche sie immer gereizt hatten, und dass sie ihr noch heute, wenn sie daran dachte, ein Lächeln ins verhärmte Rattengesicht zauberten. Manchmal ließ sich Iwanow von seiner Niedergeschlagenheit hinreißen, stützte den Kopf in die Hand und fragte Nikita, wie es wäre mit ihnen beiden.
Daraufhin schaute ihn die Ratte aus gleichermaßen traurigen und verdutzten Augen an, und dieser Blick machte Iwanow bewusst, dass die arme Ratte noch unschuldiger war als er. Eine Woche, nachdem man ihn in die Zelle gesteckt hatte (wenngleich für Iwanow eher ein Jahr als eine Woche vergangen war), wurde er erneut verhört, und ohne dass man ihn schlagen musste, erreichte man, dass er mehrere Papiere und Dokumente unterschrieb. Er kehrte nicht in seine Zelle zurück. Sie brachten ihn gleich in den Hof, jemand verpasste ihm einen Genickschuss, anschließend warf man seine Leiche auf die Ladefläche eines Lastwagens.
Nach dem Tod von Iwanow werden Anskys Eintragungen chaotisch und scheinbar zusammenhanglos, obwohl Reiter inmitten des Chaos doch Struktur und eine gewisse Ordnung fand. Er spricht über Schriftsteller. Sagt, die einzig annehmbaren Schriftsteller (in welcher Hinsicht annehmbar, erklärt er nicht) seien die aus verarmtem Adel. Der proletarische und der bürgerliche Schriftsteller seien nur dekorative Figuren. Er spricht über Sexuelles. Erinnert an Sade und an einen geheimnisvollen Russen, den Mönch Lapischin, der im siebzehnten Jahrhundert gelebt und mehrere Schriften (mit den dazugehörigen Zeichnungen) über Gruppensexpraktiken im Gebiet zwischen Dwina und
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