Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
Vom Netzwerk:
über die Steppen des literarischen Ruhms trotten.
    Gefahr, Gefahr, sagten die Muschiks, Gefahr, Gefahr, sagten die Kulaks, Gefahr, Gefahr, sagten die Unterzeichner der Erklärung der 46, Gefahr, Gefahr, sagten die toten Popen, Gefahr, Gefahr, sagte der Geist von Inès Armand, aber Iwanow hatte sich nie durch ein feines Ohr ausgezeichnet, nie durch eine Nase für heraufziehende Gewitter oder nahende Stürme, und nach einem bestenfalls mittelmäßigen Intermezzo als Artikelschreiber und Redner, das er mit Bravour absolvierte, weil man nur Mittelmäßigkeit von ihm verlangte, verkroch er sich wieder in seinem Moskauer Zimmer, häufte ein Ries Papier aufs nächste, wechselte das Farbband seiner Schreibmaschine und machte sich dann auf die Suche nach Ansky, denn er wollte in spätestens vier Monaten seinem Verleger einen neuen Roman anbieten.
    Zu jener Zeit arbeitete Ansky an einem Radioprojekt, das in ganz Europa und bis in den hintersten Winkel Sibiriens zu empfangen sein sollte. Im Jahr 1930, heißt es in den Heften, wurde Trotzki aus der Sowjetunion ausgewiesen (in Wirklichkeit wurde er schon 1929 ausgewiesen, ein Irrtum, der der russischen Informationspolitik zuzuschreiben war), und Anskys Moral geriet ins Wanken. Im Jahr 1930 beging Majakowski Selbstmord. Im Jahr 1930 sah man deutlich, mochte man auch noch so naiv oder beschränkt sein, dass die Oktoberrevolution gescheitert war.
    Aber Iwanow wollte noch einen Roman und suchte Ansky.
    Im Jahr 1932 veröffentlichte er seinen neuen Roman Der Mittag. Im Jahr 1934 erschien ein weiterer unter dem Titel Das Morgengrauen. In beiden gab es jede Menge Außerirdische, Raumflüge, Zeitsprünge, die Existenz von zwei oder mehr höher entwickelten Zivilisationen, die in regelmäßigen Abständen die Erde besuchten, die häufig heimtückischen und gewalttätigen Kämpfe zwischen diesen Zivilisationen und die herumirrenden Protagonisten.
    Im Jahr 1935 wurden die Werke Iwanows aus den Buchhandlungen entfernt. Wenige Tage später erfuhr er aus einem offiziellen Rundschreiben von seinem Parteiausschluss. Ansky berichtet, Iwanow sei drei Tage außerstande gewesen, das Bett zu verlassen. Neben ihm lagen seine drei Romane, die er wieder und wieder las, um etwas zu finden, das seinen Ausschluss rechtfertigen konnte. Er stöhnte, klagte Ach und Weh und versuchte erfolglos, sich in Erinnerungen an seine frühe Kindheit zu flüchten. Herzzerreißend melancholisch streichelte er die Rücken seiner Bücher. Manchmal stand er auf, trat ans Fenster und sah stundenlang auf die Straße.
    Im Jahr 1936, zu Beginn der ersten großen Säuberung, wurde er verhaftet. Er saß vier Monate in einer Kerkerzelle und unterschrieb alle Papiere, die man ihm vorlegte. Als er rauskam und von seinen alten Schriftstellerfreunden wie ein Aussätziger behandelt wurde, schrieb er an Gorki, damit der für ihn eintrete, aber Gorki, schwerkrank, antwortete nicht. Dann starb Gorki, und Iwanow ging zum Begräbnis. Als man ihn dort sah, nahmen ein Dichter und ein Romancier, beides junge Leute aus dem Kreis um Gorki, ihn beiseite und fragten, ob er sich nicht schäme, ob er den Verstand verloren habe, ob ihm nicht klar sei, dass seine bloße Anwesenheit den Meister beleidige.
    »Gorki hat mir geschrieben«, erwiderte Iwanow. »Gorki hat mein Roman gefallen. Das ist das Mindeste, was ich für ihn tun kann.«
    »Das Mindeste, was du für ihn tun kannst, Genosse«, sagte der Dichter, »ist, dich umzubringen.«
    »Ja, gute Idee«, sagte der Romancier, »spring aus einem Fenster deiner Wohnung, und die Sache ist geritzt.«
    »Was sagt ihr da, Genossen!«, schluchzte Iwanow.
    Ein Mädchen in einer Lederjacke, die ihr fast bis zu den Knien reichte, kam heran und fragte, was los sei.
    »Das ist Ephraim Iwanow«, antwortete der Dichter.
    »Ah, dann weiß ich Bescheid«, sagte das Mädchen, »macht, dass er verschwindet.«
    »Ich kann nicht«, sagte Iwanow, das Gesicht nass von Tränen.
    »Warum kannst du nicht, Genosse?«, fragte das Mädchen.
    »Weil meine Beine mir nicht gehorchen, ich kann keinen Schritt gehen.«
    Das Mädchen sah ihn einige Sekunden lang an. Iwanow, rechts und links von den beiden jungen Schriftstellern gehalten, hätte kein hilfloseres Bild abgeben können, und so beschloss das Mädchen, ihn zum Friedhof hinauszubegleiten. Auf der Straße aber konnte Iwanow sich noch immer nicht selbst helfen, weshalb das Mädchen ihn zur Haltestelle begleitete und dann beschloss (Iwanow weinte unaufhörlich und machte den

Weitere Kostenlose Bücher