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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Petschora hinterlassen hat.
    Nur Sex? Nur Sex? notiert Ansky wiederholte Male fragend am Rand. Er spricht über seine Eltern. Spricht über Döblin. Spricht über Homosexualität und Impotenz. Der amerikanische Kontinent des Sexuellen, schreibt er. Witzelt über die Sexualität Lenins. Spricht über Moskaus Drogenabhängige. Über die Kranken. Über die Kindsmörder. Spricht über Flavius Josephus. Was er über den Geschichtsschreiber sagt, klingt sehr melancholisch, möglicherweise aber ist die Melancholie nur vorgetäuscht. Doch wem sollte Ansky etwas vortäuschen, wenn er weiß, dass niemand seine Hefte lesen wird? (Gott vielleicht? Dann behandelt Ansky Gott aber mit einer gewissen Nachsicht, wohl weil Gott nicht auf der Halbinsel Kamtschatka herumgeirrt ist, Kälte und Hunger durchgemacht hat, er schon). Er spricht über die jungen jüdischen Russen, die die Revolution gemacht haben und jetzt (der Eintrag stammt wahrscheinlich von 1939) sterben wie die Fliegen. Er spricht über Juri Pjatakow, ermordet 1937, dann über den zweiten Moskauer Prozess. Er erwähnt Namen, die Reiter zum ersten Mal in seinem Leben hörte. Ein paar Seiten weiter dann erwähnt er sie erneut, als fürchtete er selbst, sie zu vergessen. Namen, Namen, Namen. Derer, die die Revolution gemacht haben, derer, die selbige Revolution verschlingen sollte, die nicht dieselbe war, sondern eine andere, nicht der Traum, sondern der Alptraum, der sich hinter den Lidern des Traums verbirgt.
    Er spricht über Lew Kamenew. Er erwähnt ihn zusammen mit vielen anderen Namen, die Reiter ebenfalls nicht kennt. Und er spricht über seine Erlebnisse in verschiedenen Moskauer Wohnungen, von befreundeten Leuten, die ihm vermutlich halfen und die Ansky aus Vorsicht mit Nummern bezeichnet, zum Beispiel: Heute war ich in Wohnung 5, wir tranken Tee und plauderten bis nach Mitternacht, dann ging ich zu Fuß nach Haus, die Gehwege waren verschneit. Oder: Heute war ich bei 9, er erzählte mir von 7 und faselte dann über Krankheit und ob es zweckmäßig sei, ein Mittel gegen Krebs zu finden oder nicht. Oder: Heute Nachmittag in der Metro sah ich 13, ohne dass er mich bemerkte; ich saß dösend da und ließ die Züge vorbeifahren, und 13 las auf der benachbarten Bank ein Buch über unsichtbare Menschen, bis sein Zug einfuhr, er aufstand und einstieg, ohne das Buch zuzuschlagen, obwohl der Zug brechend voll war. Er schreibt auch: Unsere Blicke trafen sich. Mit einer Schlange vögeln.
    Und er empfindet kein Mitleid mit sich selbst.
    In Anskys Heft kommt der italienische Maler Arcimboldo vor, es ist das erste Mal, dass Reiter etwas über ihn liest, Giuseppe oder Joseph oder Josepho oder Josephus Arcimboldo oder Arcimboldi oder Arcimboldus, geboren 1527, gestorben 1593. Wenn ich traurig bin oder mir langweilig ist, schreibt Ansky, obwohl es schwerfällt, sich einen gelangweilten Ansky vorzustellen, der versucht, die vierundzwanzig Stunden des Tages rumzukriegen, denke ich an Giuseppe Arcimboldo, und Traurigkeit und Langeweile lösen sich auf, so wie an einem Frühlingsmorgen in den Sümpfen der unmerklich vorrückende Morgen die vom Schilfrohrdickicht des Ufers aufsteigenden Dünste vertreibt. Außerdem finden sich Anmerkungen zu Courbet, in Anskys Augen das Paradigma des revolutionären Künstlers. Beispielsweise macht er sich lustig über die manichäistische Vorstellung, die einige sowjetische Maler von Courbet haben. Er versucht, sich Courbets Gemälde Rückkehr von der Konferenz vorzustellen, auf dem eine Gruppe sturzbetrunkener Geistlicher zu sehen ist, ein Gemälde, das sowohl vom offiziellen Salon als auch vom Salon des Refusés zurückgewiesen wird, was nach Anskys Meinung den Stab über die zurückweisenden Zurückgewiesenen bricht. Das Schicksal der Rückkehr von der Konferenz erscheint ihm nicht bloß exemplarisch und poetisch, sondern auch hellsichtig: Ein reicher Katholik erwirbt das Gemälde und verbrennt es, kaum dass er es bei sich zu Hause hat.
    Die Asche der Rückkehr von der Konferenz treibt nicht nur über den Himmel von Paris, liest der junge Soldat Reiter mit Tränen in den Augen, Tränen, die ihn schmerzen und aufwecken, sondern auch über den Himmel von Moskau, Rom und Berlin. Er spricht über das Atelier des Künstlers. Er spricht über die Figur Baudelaires, die mit Buch in der Hand am rechten Bildrand zu sehen ist und die Poesie versinnbildlicht. Er spricht von der Freundschaft Courbets mit Baudelaire, mit Daumier, mit Jules Vallès. Er spricht von

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