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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Eingeborenenstamm, der praktisch wie in der Steinzeit lebte. Der erste Gedanke der Franzosen, erklärte einer der sowjetischen Anthropologen, ein großer, massiger Kerl mit buschigem, mittig geteiltem Schnurrbart, galt natürlich der Befürchtung, die Eingeborenen könnten Kannibalen sein, und um sicherzugehen und von Anfang an jeden Irrtum auszuschließen, fragten sie sie in den verschiedenen Sprachen der an den Küsten lebenden Eingeborenen, unter Zuhilfenahme recht unmissverständlicher Gesten, ob sie Menschenfleisch äßen oder nicht.
    Die Eingeborenen verstanden sie und antworteten mit einem entschiedenen Nein. Daraufhin waren die Franzosen neugierig, wovon sie sich ernährten, denn fleischlose Kost war in ihren Augen eine grauenvolle Vorstellung. Auf Nachfragen antworteten die Eingeborenen, doch, sie würden schon jagen, allerdings wenig, denn in den Hochwäldern gebe es nicht so viele Tiere, dafür äßen sie aber, auf hunderterlei Art zubereitet, das Mark eines Baumes, das sich bei der Prüfung durch die skeptischen Franzosen als ausgezeichneter Ersatz erwies, um Eiweißmangel vorzubeugen. Der übrige Speiseplan umfasste eine breite Palette an Waldfrüchten, Wurzeln und Knollen. Die Eingeborenen bauten nichts an. Was ihnen der Wald geben wollte, würde er ihnen schon geben, was er ihnen nicht geben wollte, war ihnen für immer verwehrt. Sie lebten in vollkommener Symbiose mit ihrem Ökosystem. Wenn sie die Rinde bestimmter Bäume abschälten, um sie in ihren Hütten als Fußboden zu verwenden, dienten sie damit in Wahrheit der Gesunderhaltung der Bäume. Ihr Leben ähnelte dem von Müllmännern. Sie waren die Müllmänner des Waldes. Ihre Sprache jedoch war nicht zotig wie die der Moskauer oder Pariser Müllmänner, auch waren sie nicht so groß wie sie, verfügten auch über keine bemerkenswerte Muskulatur und hatten nicht ihren Blick, den Blick von Untermietern der Gosse, vielmehr waren sie klein und zierlich, sprachen mit gedämpfter Stimme, wie Vögel, achteten außerdem darauf, die Fremden nicht zu berühren, und ihr Zeitbegriff hatte mit dem Zeitbegriff der Franzosen nichts gemein. Und deswegen wahrscheinlich, sagte der sowjetische Anthropologe mit buschigem Schnurrbart, kam es zur Katastrophe, wegen des unterschiedlichen Zeitbegriffs, denn nach fünf Tagen Aufenthalts bei ihnen nahmen die französischen Anthropologen an, es herrsche Vertrauen, sie seien schon wie Kameraden, wie Kumpel, wie gute Freunde, und beschlossen, sich näher mit der Sprache der Eingeborenen und ihren Gebräuchen zu befassen, woraufhin sie entdeckten, dass die Eingeborenen jemandem, den sie berührten, nicht in die Augen sahen, egal ob dieser Jemand ein Franzose war oder zu ihrem eigenen Stamm gehörte. Wenn zum Beispiel ein Vater seinen Sohn streichelte, bemühte er sich stets, anderswohin zu schauen, und wenn sich ein kleines Mädchen in den Schoß der Mutter kuschelte, schaute die Mutter zur Seite oder zum Himmel und das Mädchen, wenn es bereits Vernunft besaß, zu Boden, und Freunde, die zusammen loszogen, Knollen zu sammeln, schauten einander ins Gesicht, also in die Augen, aber wenn sie sich nach einem erfolgreichen Tag auf die Schultern klopften, wendeten beide den Blick ab, außerdem bemerkten und verzeichneten die Anthropologen in ihren Büchlein, dass die Eingeborenen, wenn sie einander die Hand gaben, sich seitlich zueinander stellten und, wenn sie Rechtshänder waren, die rechte Hand unter der linken Achsel durchsteckten und locker hinhielten oder die andere nur leicht drückten, waren sie Linkshänder, steckten sie die linke Hand eben unter der rechten Achsel durch, und einer der Anthropologen, erzählte unter schallendem Gelächter der russische Anthropologe, fasste nun den Entschluss, den Eingeborenen zu zeigen, wie sie, die sie von jenseits des Tieflands kamen, von jenseits des Meeres, von jenseits der Gefilde, wo die Sonne unterging, einander die Hand gaben, und durch Gesten oder indem er einen seiner französischen Kollegen als Partner einspannte, zeigte er ihnen, auf welche Weise man sich in Paris begrüßte, zwei Hände, die sich drückten, sich bewegten oder hin und her schwangen, während die Gesichter unbeweglich blieben oder Zuneigung oder Überraschung ausdrückten, und die Augen freimütig die des Gegenübers fixierten, gleichzeitig sich die Lippen öffneten und Bonjour, Monsieur Jouffroy sagten oder Bonjour, Monsieur Delhorme oder Bonjour, Monsieur Courbet (obwohl es dort, dachte Reiter beim Lesen von

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