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Hotel Roter Oktober in Jalta (dem ehemaligen Hotel England und Frankreich), auf der majestätischen Terrasse über dem Schwarzen Meer, im Ohr die fernen Klänge des Orchesters Blaue Wolga, in lauen Nächten unter abertausend funkelnden Sternen, während der Dramaturg der diesjährigen Saison eine geflügelte Sentenz in die Runde warf und der Romancier mit einer glänzenden Sentenz parierte, die Nächte von Jalta, mit phantastischen Frauen, die imstande waren, bis morgens um sechs Wodka zu trinken, ohne die Besinnung zu verlieren, und schwitzenden Jungautoren vom Verband proletarischer Schriftsteller von der Krim, die sich um vier Uhr nachmittags literarischen Rat holen kamen.
Manchmal, wenn er allein war, häufiger noch, wenn er allein war und vor einem Spiegel stand, zwickte sich der arme Iwanow, um sich zu überzeugen, dass er nicht träumte, dass alles wirklich war. Und es war wirklich alles wirklich, zumindest dem Anschein nach. Schwarze Gewitterwolken brauten sich über ihm zusammen, er selbst jedoch spürte nur die langersehnte Brise, das aromatische Lüftchen, das sein Gesicht von zahlreichen Ärgernissen und Ängsten reinigte.
Wovor hatte Ephraim Iwanow Angst? fragte sich Ansky in seinen Heften. Sicher nicht vor körperlichen Gefahren, denn als alter Bolschewik war er oft genug dicht an Verhaftung, Gefängnis und Deportation vorbeigeschrammt, und obwohl man ihn nicht als ausgesprochen mutig bezeichnen konnte, würde man doch lügen, wollte man behaupten, er sei ein Feigling und habe keinen Mumm. Iwanows Angst war literarischer Art. Seine Angst war die Angst eines Großteils jener Bürger, die eines schönen (oder unschönen) Tages beschlossen, das Geschäft der Literatur und vor allem der Fiktion zum festen Bestandteil ihres Lebens zu machen. Die Angst, schlecht zu sein. Angst auch, nicht anerkannt zu werden. Vor allem aber die Angst, schlecht zu sein. Die Angst, dass ihre Bemühungen und Bestrebungen in Vergessenheit geraten könnten. Angst vor einem Auftritt, der keine Spuren hinterlässt. Angst vor den Kräften der Natur und des Zufalls, die oberflächliche Spuren verwischen. Angst, allein zu essen und von niemandem bemerkt zu werden. Angst, keine Wertschätzung zu erfahren. Angst zu scheitern, sich lächerlich zu machen. Aber vor allem Angst, schlecht zu sein. Angst, für alle Ewigkeit in der Hölle der schlechten Schriftsteller zu schmoren. Irrationale Ängste, dachte Ansky, vor allem, wenn die Ängstlichen ihren Ängsten Trugbilder entgegensetzen. Das ist so, als würde man sagen, das Paradies der guten Schriftsteller sei aus Sicht der schlechten von Trugbildern bevölkert. Und die Güte (oder die Brillanz) eines Werks kreise um ein Trugbild. Ein Trugbild, das selbstverständlich je nach Epoche oder Land variierte, aber immer blieb, was es war, Trugbild, etwas, dessen Schein trog, Oberfläche und nicht Fundament, bloße Geste, und noch die Geste wurde mit der Absicht verwechselt, Tolstois Haare, Augen und Lippen, von Tolstoi zu Pferd zurückgelegte Werst und Frauen, von Tolstoi entjungfert auf einem vom Feuer des trügerischen Scheins verbrannten Teppich.
Jedenfalls brauten sich Gewitterwolken über Iwanow zusammen, auch wenn er ihrer nicht einmal in seinen Träumen ansichtig wurde, denn in dieser Phase seines Lebens sah Iwanow nur Iwanow, verstieg sich sogar zu fürchterlicher Lächerlichkeit, so geschehen in einem Interview mit zwei jungen Leuten von der Literaturzeitschrift der Komsomolzen der Russischen Föderation, die ihm unter anderem folgende Fragen stellten:
Junge Komsomolzen: Warum, glauben Sie, haben Sie Ihren ersten großen Roman, der, dem Sie die Gunst der Arbeiter- und Bauernmassen verdanken, im Alter von rund sechzig Jahren geschrieben? Wie viele Jahre hat es gedauert, die Handlung der Dämmerung zu ersinnen? Ist es Ihr Alterswerk?
Ephraim Iwanow: Ich bin erst neunundfünfzig. Bis ich sechzig werde, bleibt mir noch etwas Zeit. Und ich möchte daran erinnern, dass der Spanier Cervantes seinen Don Quijote ungefähr im gleichen Alter geschrieben hat.
Junge Komsomolzen: Glauben Sie, Ihr Werk ist so etwas wie der Don Quijote des sowjetischen Wissenschaftsromans?
Ephraim Iwanow: Es hat etwas davon, ja, doch, es hat etwas davon.
So hielt Iwanow sich also für den Cervantes der phantastischen Literatur. Er sah Wolken, die nach Guillotine aussahen, er sah Wolken, die nach Nackenschuss aussahen, aber in Wirklichkeit sah er nur sich selbst neben einem geheimnisvollen und nützlichen Sancho
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