2666
entgeht, sagt er nicht. Und endlich die Ortschaft Kostekino. Und die Nacht. Und das Geräusch des Windes, der ihn wiedererkennt. Und Anskys Mutter, die die Tür öffnet und ihn nicht wiedererkennt.
Die letzten Eintragungen im Heft sind knapp. Wenige Monate nach seiner Ankunft im Dorf starb sein Vater, als hätte er nur auf ihn gewartet, um sich kopfüber in die andere Welt zu stürzen. Seine Mutter kümmerte sich um die Beerdigung, und nachts, wenn alle schliefen, schlich Ansky sich zum Friedhof, saß lange am Grab und ließ die Gedanken schweifen. Tagsüber schlief er für gewöhnlich in der Dachkammer, zugedeckt bis zum Hals, bei völliger Verdunklung. Nachts kam er ins Erdgeschoss herunter und las beim Licht des Kamins neben dem Bett, in dem seine Mutter schlief. In einer seiner letzten Eintragungen erwähnt er die Unordnung des Universums und sagt, nur in dieser Unordnung sind wir fassbar. In einer anderen fragt er sich, was bleibt, wenn das Universum stirbt und mit ihm Zeit und Raum. Null, nichts. Dieser Gedanke jedoch reizt ihn zum Lachen. Hinter jeder Antwort verbirgt sich eine Frage, sagen die Bauern von Kostekino, erinnert sich Ansky. Hinter jeder unanfechtbaren Antwort verbirgt sich eine noch komplexere Frage. Die Komplexität aber reizt ihn zum Lachen, und manchmal hört seine Mutter ihn in der Dachkammer lachen, wie damals, als er zehn war. Ansky denkt an parallele Universen. In jenen Tagen greift Hitler Polen an und beginnt den Zweiten Weltkrieg. Warschau fällt, Paris fällt, die Sowjetunion wird angegriffen. Nur in der Unordnung sind wir fassbar. Eines Nachts träumt Ansky, der Himmel sei ein riesiger Ozean aus Blut. Auf der letzten Heftseite zeichnet er eine Route, um sich den Partisanen anzuschließen.
Blieb noch das Rätsel des Einpersonenverstecks im Innern des Kamins zu klären. Wer hatte es gebaut? Wer sich dort versteckt?
Nach langem Grübeln kam Reiter zu dem Schluss, dass es von Anskys Vater gebaut worden war. Wahrscheinlich noch vor der Zeit von Anskys Rückkehr. Es ist aber auch denkbar, dass der Vater es erst gebaut hatte, nachdem Ansky zurück war, was logischer schien, da die Eltern erst da erfuhren, dass ihr Sohn als Staatsfeind galt. Aber Reiter ahnte, dass das Versteck, das er sich als langsames, solides, bedächtiges Bauvorhaben vorstellte, lange vor Anskys Ankunft geplant worden war, was seinem Vater den Nimbus eines Hellsehers oder Geisteskranken verlieh. Außerdem kam er zu dem Schluss, dass niemand das Versteck benutzt hatte.
Natürlich schloss er den obligatorischen Besuch der Parteifunktionäre nicht aus, die in der Isba nach Spuren von Ansky herumgeschnüffelt haben dürften, auch dass Letzterer sich während der Durchsuchungen im Kamin verkrochen haben könnte, schien ihm wahrscheinlich, fast sicher. Aber in der Stunde der Wahrheit, als das Kommando der Einsatzgruppe eintraf, hatte sich niemand dort versteckt, nicht einmal Anskys Mutter. Er stellte sich allerdings Anskys Mutter vor, wie sie das Heft ihres Sohnes dort in Sicherheit brachte, und im Schlaf sah er sie dann zusammen mit den anderen Juden von Kostekino dorthin gehen, wo die deutsche Disziplin, wir, der Tod, sie erwartete.
Auch Ansky sah er in seinen Träumen. Er sah ihn bei Nacht über Land gehen, eine namenlose Person auf dem Weg nach Westen, und er sah ihn unter Kugeln sterben.
Tagelang dachte Reiter, er sei es gewesen, der auf Ansky geschossen hatte. Nachts litt er unter schrecklichen Alpträumen, aus denen er weinend erwachte. Manchmal lag er still da, kauerte sich im Bett zusammen und lauschte dem Schnee, der auf das Dorf fiel. Er dachte nicht mehr an Selbstmord, denn er hielt sich für tot. Das Erste, was er morgens tat: Er las in Anskys Heft, das er an irgendeiner Stelle aufschlug. Oder er unternahm lange Spaziergänge durch den verschneiten Wald bis zu dem alten Sowchos, wo die Ukrainer unter dem Befehl zweier gelangweilter Deutscher arbeiteten.
Wenn er zum Hauptgebäude des Dorfes ging, um sich sein Essen abzuholen, hatte er das Gefühl, sich auf einem anderen Planeten zu befinden. Drüben brannte immer ein Feuer im Kamin, und zwei riesige Feldkochtöpfe mit Suppe vernebelten mit ihrem Dampf das Erdgeschoss. Es roch nach Kohl und Tabak, und seine Kameraden liefen in Hemdsärmeln oder nackt herum. Ihm war der Wald bei weitem lieber, wo er sich in den Schnee setzte, bis ihm der Hintern festzufrieren begann. Ihm war die Isba lieber, wo er Feuer machte und sich mit Anskys Heft vor den Kamin setzte. Von
Weitere Kostenlose Bücher