Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
Vom Netzwerk:
Zeit zu Zeit hob er den Kopf und betrachtete das Innere des Kamins, als würde ein Schatten ihn von dort aus anschauen, der Scheu und Sympathie ausstrahlte. Ein wohliger Schauer durchlief dann seinen Körper. Manchmal stellte er sich vor, er würde bei der Familie Ansky leben. Er sah die Mutter und den Vater und den jungen Ansky, die kreuz und quer durch Sibirien wanderten, und am Ende hielt er sich die Augen zu. Als das Kaminfeuer zu kleinen, in der Dunkelheit glimmenden Häufchen heruntergebrannt war, schlüpfte er ganz vorsichtig in das warme Versteck und blieb dort so lange, bis die morgendliche Kälte ihn weckte.
    Eines Nachts träumte er, er sei wieder auf der Krim. Er erinnerte sich nicht, wo genau, aber auf der Krim. Inmitten zahlreicher Rauchwolken, die ringsum wie Geysire aufstiegen, feuerte er sein Gewehr ab. Dann ging er los und stieß auf einen bäuchlings daliegenden toten Soldaten der Roten Armee, die Waffe noch in der Hand. Als er sich herunterbeugte, um ihn umzudrehen und ihm ins Gesicht zu sehen, fürchtete er wie so oft, der Tote könne Anskys Gesicht haben. Als er den Toten an der Uniform packte, dachte er: Nein, nein, nein, ich will diese Last nicht tragen, ich will, dass Ansky lebt, ich will nicht, dass er stirbt, ich will nicht sein Mörder gewesen sein, auch wenn es unabsichtlich geschah, auch wenn es zufällig geschah, auch wenn es unwissentlich geschah. Dann stellte er ohne Überraschung, eher mit Erleichterung fest, dass der Tote sein eigenes Gesicht hatte, Hans Reiters Gesicht. Als er aus diesem Traum am Morgen erwachte, konnte er wieder sprechen. Seine ersten Worte waren:
    »Ich war es nicht, ein Glück.«

Erst im Sommer 1942 erinnerte man sich an die Soldaten in Kostekino, und Reiter wurde zu seiner Division zurückbeordert. Er war auf der Krim. Er war in Ketsch. Er war an den Ufern des Kuban und in den Straßen von Krasnodar. Er zog durch den Kaukasus bis Budennowsk und durchquerte mit seinem Bataillon die kalmückische Steppe, Anskys Heft immer unter seinem Waffenrock verborgen, zwischen seiner Narrenkleidung und seiner Soldatenuniform. Er schluckte Staub und sah keine feindlichen Soldaten, aber er sah Wilke und Kruse und Unteroffizier Lemke wieder, obwohl sie nicht leicht wiederzuerkennen waren, denn sie hatten sich verändert, nicht nur äußerlich, auch ihre Stimmen, Wilke, zum Beispiel, sprach nur noch Dialekt, und fast niemand außer Reiter konnte ihn verstehen, und bei Kruse hatte sich die Stimme verändert, er sprach, als hätte man ihm vor langer Zeit die Hoden entfernt, und Unteroffizier Lemke brüllte nicht mehr, außer in ganz seltenen Fällen, meistens wandte er sich in einer Art Flüsterton an seine Männer, als wäre er müde oder durch die zurückgelegten Entfernungen schläfrig geworden. Jedenfalls wurde Unteroffizier Lemke bei dem vergeblichen Versuch, in Richtung Tuapse voranzukommen, schwer verwundet, seinen Platz nahm Unteroffizier Bublitz ein. Dann kam der Herbst, der Schlamm, der Wind, und nach dem Herbst gingen die Russen zum Gegenangriff über.
    Reiters Division, die jetzt nicht mehr zur 11., sondern zur 17. Armee gehörte, zog sich von Elista nach Proletarskaja zurück und marschierte dann am Manytsch entlang hoch nach Rostow. Von dort setzten sie ihren Rückzug nach Westen bis zum Mius fort, wo sich die Front neu formierte. Es kam der Sommer 1943, und wieder griffen die Russen an, und wieder zog sich Reiters Division zurück. Und bei jedem weiteren Rückzug war die Zahl derer, die überlebten, kleiner. Kruse starb. Unteroffizier Bublitz starb. Voß, der mutige Voß, wurde erst zum Unteroffizier, dann zum Leutnant befördert, und unter Voß verdoppelte sich die Zahl der Opfer in weniger als einer Woche.
    Reiter machte es sich zur Gewohnheit, die Toten zu betrachten, wie man ein Stück Bauland oder ein Grundstück oder ein Landhaus betrachtet, und dann ihre Taschen nach Essbarem zu durchsuchen. Wilke tat das Gleiche, aber statt es schweigend zu tun, trällerte er: Preußische Soldaten onanieren, bringen sich aber nicht um. Einige Kameraden im Bataillon tauften sie die Vampire. Reiter war es egal. In den Erholungspausen zog er ein Stück Brot und Anskys Heft unter seinem Waffenrock hervor und begann zu lesen. Manchmal setzte sich Wilke zu ihm und schlief kurz darauf ein. Einmal fragte er, ob Reiter das geschrieben habe. Reiter sah ihn an, als wenn die Frage zu dämlich wäre, als dass man darauf antworten müsste. Wilke fragte noch einmal, ob er das geschrieben

Weitere Kostenlose Bücher