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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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habe. Reiter kam es so vor, als schliefe Wilke und redete im Traum. Seine Augen waren halb geschlossen, er war unrasiert, und Backen- und Kieferknochen schienen die Gesichtshaut sprengen zu wollen.
    »Ein Freund hat das geschrieben«, sagte er.
    »Ein toter Freund«, sagte Wilkes verschlafene Stimme. »Mehr oder weniger«, sagte Reiter und las weiter.
    Reiter schlief gern bei Artillerielärm ein. Auch Wilke konnte eine zu lang anhaltende Stille nicht ertragen und sang sich eins, bevor er die Augen schloss. Leutnant Voß dagegen stopfte sich vorm Schlafen immer etwas in die Ohren und hatte Mühe, aufzuwachen oder sich wieder an Wachzustand und Krieg zu gewöhnen. Manchmal musste man ihn wach rütteln, und dann rief er, was zum Teufel los sei, und faustete in die Dunkelheit. Aber er bekam Orden verliehen, und einmal begleiteten Reiter und Wilke ihn zum Divisionshauptquartier, wo General von Berenberg persönlich ihm die höchste Auszeichnung, die ein Soldat der Wehrmacht erlangen konnte, an die Brust heftete. Das war ein glücklicher Tag für Voß, nicht aber für die 79. Division, die damals weniger Männer besaß als ein Regiment, denn am Nachmittag, Reiter und Wilke saßen gerade neben einem Lkw und aßen Wurst, fielen die Russen über ihre Stellungen her, und Voß und sie beide mussten sofort an die vorderste Front zurückkehren. Der Widerstand war kurz, und wieder wichen sie zurück. Auf dem Rückzug schrumpfte die Division auf die Größe eines Bataillons, und die meisten Soldaten machten den Eindruck, als seien sie Geisteskranke, die einem Irrenhaus entsprungen waren.
    Mehrere Tage lang marschierten sie so schnell sie konnten nach Westen, in Kompanieordnung oder in Gruppen, die der Zufall bildete und auflöste.
    Reiter ging allein. Manchmal sah er sowjetische Geschwader vorbeifliegen, und manchmal zogen am Himmel, der noch vor einer Minute strahlend blau gewesen war, plötzlich Wolken auf, und es gab einen Wolkenbruch, der Stunden andauerte. Von einem Hügel aus sah er eine Kolonne deutscher Panzer Richtung Osten rollen. Sie sahen aus wie Särge einer außerirdischen Zivilisation.
    Er ging bei Nacht. Tagsüber versteckte er sich so gut er konnte und las in Anskys Heft und schlief und schaute, was um ihn herum wuchs oder verbrannte. Manchmal erinnerte er sich an die Algen im baltischen Meer und lächelte. Manchmal dachte er an seine kleine Schwester und lächelte ebenfalls. Seit langem hatte er nichts von ihnen gehört. Sein Vater hatte ihm nie geschrieben, und Reiter vermutete, dass der Grund dafür sei, dass er nicht gut schreiben konnte. Seine Mutter aber hatte ihm geschrieben. Was stand in ihren Briefen? Reiter hatte es vergessen, es waren keine langen Briefe, aber Reiter hatte sie völlig vergessen, nur an ihre Schrift erinnerte er sich, an große, zittrige Buchstaben, an ihre Grammatikfehler, ihre Nacktheit. Mütter sollten niemals Briefe schreiben, dachte er. An die seiner Schwester dagegen konnte er sich genauestens erinnern, und er musste lächeln, während er bäuchlings im Gras versteckt lag und der Schlaf ihn überkam. Es waren Briefe, in denen seine Schwester von sich und dem Dorf erzählte, von der Schule, von Kleidern, die sie trug, von ihm.
    Du bist ein Riese, sagte die kleine Lotte. Zunächst hatte ihn diese Äußerung betroffen gemacht. Aber dann dachte er, dass für ein kleines Mädchen, noch dazu ein so zartes und empfindsames Mädchen wie Lotte, seine Statur von allem, was sie kannte, einem Riesen am ähnlichsten war. Deine Schritte hallen durch den Wald, sagte Lotte in einem ihrer Briefe. Die Vögel des Waldes hören den Klang deiner Schritte und verstummen. Die Arbeiter auf dem Feld hören den Klang deiner Schritte. Die, die sich in dunklen Zimmern versteckt halten, hören dich. Die Jungs von der Hitlerjugend hören dich und versammeln sich zu deinem Empfang am Eingang des Dorfes. Alles freut sich. Du lebst. Deutschland lebt. Etc.
    Eines Tages, er wusste nicht wie, kam Reiter wieder nach Kostekino. Im Dorf befanden sich keine Deutschen mehr. Der Sowchos war verwaist, und nur aus einigen Isbas tauchten die Köpfe zittriger, unterernährter Greise auf, die ihm mit Zeichen zu verstehen gaben, dass die Deutschen die Techniker und alle jungen Ukrainer, die für sie im Dorf arbeiten mussten, evakuiert hatten. An diesem Tag schlief Reiter in Anskys Isba und fühlte sich dort wohler, als wäre er nach Hause zurückgekehrt. Er machte Feuer im Kamin und warf sich angezogen aufs Bett. Aber er konnte

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