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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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nicht gleich einschlafen. Er dachte an die Trugbilder, von denen Ansky in seinem Heft sprach, und dachte an sich selbst. Er fühlte sich so frei wie noch nie in seinem Leben, und obwohl er schlecht ernährt und folglich geschwächt war, fühlte er sich stark genug, diesen Drang nach Freiheit, nach Souveränität so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Die Möglichkeit jedoch, dass alles nur ein Trugbild sein könnte, beschäftigte ihn. Das Trugbild war eine Besatzungsmacht der Wirklichkeit, dachte er, die noch die äußersten und entlegensten Bereiche der Wirklichkeit kontrollierte. Es lebte in den Seelen der Leute und in ihren Gebärden, in ihrem Willen und im Schmerz, in der Art, wie einer seine Erinnerungen ordnete, und in der Art, wie er Prioritäten setzte. Das Trugbild blühte in den Salons der Industriellen und in der Unterwelt. Es diktierte Regeln, es revoltierte gegen die eigenen Regeln (Revolten, die blutig sein konnten, aber darum nicht weniger Lug und Trug waren), es diktierte neue Regeln.
    Der Nationalsozialismus war das zu absoluter Herrschaft gelangte Trugbild. Liebe, überlegte er, ist im Allgemeinen auch nur ein Trugbild. Meine Liebe zu Lotte ist kein Trug. Lotte ist meine Schwester, Lotte ist klein, Lotte hält mich für einen Riesen. Aber die Liebe, die ganz gewöhnliche Liebe, die Partnerliebe mit Frühstück und Abendbrot, mit Eifersucht und Geld und Traurigkeit, ist Theater, also Trugbild. Die Jugend ist das Trugbild der Stärke, die Liebe das Trugbild des Friedens. Weder Jugend noch Stärke noch Liebe noch Frieden können mir zuteil werden, dachte er seufzend, noch kann ich ein solches Geschenk annehmen. Nur Anskys Herumvagabundieren ist kein Trugbild, dachte er, nur Anskys vierzehn Jahre sind kein Trugbild. Ansky lebte sein Leben lang in einer rasenden Unreife, weil die Revolution, die wahre und einzige Revolution, auch Unreife ist. Dann fiel er in einen traumlosen Schlaf, und am nächsten Tag ging er in den Wald, um Holz für den Kamin zu sammeln, und als er ins Dorf zurückkam, betrat er aus Neugier das Gebäude, in dem im Winter 42 die Deutschen gewohnt hatten, und fand das Innere verlassen und heruntergekommen, ohne Töpfe und Reissäcke, ohne Decken oder Feuer im Kachelofen, die Scheiben kaputt und die Fensterläden aus den Angeln, der Boden schmutzig und mit großen Flecken von Schlamm oder Scheiße, die an den Schuhen klebenblieb, wenn man so ungeschickt war, hineinzutreten. An eine Wand hatte ein Soldat mit Kohle Heil Hitler geschrieben, an einer anderen gab es eine Art Liebesbrief. Im oberen Stock hatte sich jemand die Zeit damit vertrieben, die Wände und sogar die Decke mit Szenen aus dem Alltag der Deutschen zu bemalen, die in Kostekino gelebt hatten. In einer Ecke waren der Wald und fünf Deutsche abgebildet, zu erkennen an ihren Mützen, die Holz heranschafften oder Vögel jagten. In einer anderen Ecke trieben es zwei Deutsche miteinander, während ein dritter, beide Arme bandagiert, ihnen versteckt hinter einem Baum zuschaute. In wieder einer anderen lagen vier Deutsche vollgefressen da und schliefen, während man neben ihnen undeutlich das Gerippe eines Hundes erkennen konnte. In der letzten Ecke war er, Reiter, selbst abgebildet, wie er den Kopf mit dem langen blonden Bart aus dem Fenster von Anskys Isba steckte, während draußen vor dem Haus ein Elefant, eine Giraffe, ein Rhinozeros und eine Ente vorbeimarschierten. Im Zentrum des Freskos, um es einmal so zu nennen, sah man einen gepflasterten Platz, einen frei erfundenen Platz, den Kostekino nie gehabt hatte, voller Frauen oder eingebildeter Frauen mit struppigen Haaren, die hin und her liefen und herumkrakeelten, während die deutschen Soldaten die Arbeit eines Trupps junger Ukrainer überwachten, die ein steinernes Denkmal errichteten, dessen Form noch nicht zu erkennen war.
    Die Zeichnungen waren plump und unbeholfen und die Perspektivik vorrenaissancehaft, aber die Ausführung der einzelnen Teile ließ eine Ironie und damit eine heimliche Könnerschaft erahnen, die deutlich größer war, als es sich auf den ersten Blick hin darstellte. Auf dem Rückweg zu seiner Isba dachte Reiter, dass der Maler Talent besaß, dass er aber wie die übrigen Deutschen, die den Winter 1942 in Kostekino verbrachte hatten, verrückt geworden war. Außerdem machte er sich Gedanken über sein verblüffendes Auftauchen in dem Wandgemälde. Sicher glaubte der Maler, er sei derjenige, der den Verstand verloren habe, dachte er. Die Figur der

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