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Fersen, sahen Reiter und einige Soldaten seines Bataillons am südlichen Himmel eine blaue Staubwolke aufsteigen. Dann hörten sie gedämpfte Schreie und Gesänge, und kurz darauf sah Reiter durch seinen Feldstecher eine Gruppe rumänischer Soldaten, die, als wäre der Teufel hinter ihnen her, in panischer Angst über eine Obstwiese hetzten und in einem Feldweg verschwanden, der parallel zu der Straße verlief, auf der ihre Division sich zurückzog.
Ihnen blieb nicht viel Zeit, jeden Moment konnten die Russen eintreffen, dennoch beschlossen Reiter und einige seiner Kameraden, nachzusehen, was da los war. Sie verließen den Hügel, der ihnen als Aussichtspunkt gedient hatte, und kämpften sich in einem Wagen mit aufgepflanztem Maschinengewehr durch das Dickicht, das beide Fahrbahnen voneinander trennte. Vor ihnen tauchte ein verlassenes rumänisches Landschloss auf, mit verrammelten Fenstern und einem gepflasterten Hinterhof, der sich bis zu den Ställen erstreckte. Sie gelangten auf einen Vorplatz, wo Nachzügler einer rumänischen Einheit Würfel spielten oder Bilder und Möbel aus dem Schloss auf Karren luden (die sie dann selbst zogen). Am anderen Ende des Vorplatzes ragte ein großes Kreuz aus dunkelgebeizten Balken auf, die man wahrscheinlich aus dem Prunksaal des Schlosses herausgerissen hatte. An dem Kreuz, das in gelber Erde stak, hing ein nackter Mann. Die Rumänen, die ein wenig Deutsch sprachen, fragten sie, was sie hier suchten. Die Deutschen antworteten, sie seien auf der Flucht vor den Russen. Sie werden bald hier sein, sagten einige Rumänen.
»Und was soll das hier?«, fragte ein Deutscher und zeigte auf den Gekreuzigten.
»Das ist der General unseres Armeekorps«, sagten die Rumänen und beeilten sich mit dem Aufladen ihrer Beute.
»Ihr desertiert?«, fragte einer der Deutschen.
»Richtig«, erwiderte ein Rumäne. »Gestern Nacht hat das dritte Armeekorps beschlossen, zu desertieren.«
Die Deutschen sahen sich an, als wüssten sie nicht, ob sie auf die Rumänen schießen oder mit ihnen desertieren sollten.
»Und wohin werdet ihr gehen?«, fragten sie.
»Nach Westen, nach Hause«, sagten einige der Rumänen.
»Habt ihr euch das gut überlegt?«
»Wir werden jeden töten, der sich uns in den Weg stellt«, sagten die Rumänen.
Wie um ihre Worte zu bekräftigen, griffen die meisten zu ihren Gewehren, manch einer legte sogar unverhohlen auf sie an. Für einen Augenblick sah es so aus, als würden beide Gruppen aufeinander schießen. In diesem Moment sprang Reiter vom Wagen, und ohne sich im Geringsten um das Verhalten von Rumänen und Deutschen zu scheren, trat er vor das Kreuz mit dem Gekreuzigten. Im Gesicht des Mannes klebte trockenes Blut, als hätte man ihm letzte Nacht mit Gewehrkolben die Nase zertrümmert, und seine Augen waren dunkelviolett, die Lippen geschwollen, trotzdem erkannte er ihn sofort. Es war General Entrescu, der Mann, der im Schloss in den Karpaten mit der Baroness von Zumpe geschlafen hatte und von Wilke und ihm dabei vom Geheimgang aus beobachtet worden war. Sie hatten ihm die Kleider in Fetzen vom Leib gerissen, wahrscheinlich als er noch lebte, so dass er bis auf seine Bergstiefel völlig nackt war. Entrescus Genital, ein imposanter Schwanz, der nach Berechnungen, die Wilke und er damals angestellt hatten, in erigiertem Zustand rund dreißig Zentimeter maß, schwang sanft im Abendwind. Zu Füßen des Kreuzes stand eine Kiste mit Feuerwerkskörpern, mit denen der General seine Gäste zu unterhalten pflegte. Das Pulver musste feucht geworden sein, oder die Raketen waren zu alt, denn wenn man sie zündete, löste sich nur ein blaues Rauchwölkchen, das sich rasch zum Himmel verflüchtigte. Einer der Deutschen in Reiters Rücken machte eine Bemerkung über das stattliche Gemächt des Generals. Einige Rumänen lachten, und alle, einige schneller, andere langsamer, näherten sich dem Kreuz, als würde es sie plötzlich magnetisch anziehen.
Die Gewehre zielten auf niemanden mehr, die Soldaten hielten sie, als wenn es Dreschflegel und Forken wären und sie erschöpfte Bauern, die permanent am Rand des Abgrunds entlangmarschierten. Sie wussten, dass die Russen bald da sein würden, und das machte ihnen Angst, aber keiner konnte es lassen, ein letztes Mal unter das Kreuz von General Entrescu zu treten.
»Was war er für ein Typ«, fragte ein Deutscher, wissend, dass von der Antwort nichts mehr abhing.
»Er war kein schlechter Kerl«, sagte ein Rumäne.
Dann standen alle
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