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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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andächtig da, einige mit gesenktem Kopf, während andere den General aus glasigen Augen ansahen. Niemand kam auf die Idee, zu fragen, wie sie ihn getötet hatten. Wahrscheinlich hatten sie ihn verprügelt, ihn dann zu Boden gestoßen und immer weiter auf ihn eingeschlagen. Der Stamm des Kreuzes war dunkel von Blut, dunkel wie eine Spinne, und die Blutkruste zog sich hinunter bis zur gelben Erde. Niemand kam auf die Idee, zu sagen, man solle ihn doch abnehmen.
    »Ein solches Exemplar findet ihr so schnell nicht wieder«, sagte einer der Deutschen.
    Die Rumänen verstanden ihn nicht. Reiter betrachtete Entrescus Gesicht: Er hatte die Augen geschlossen, aber es wirkte so, als wären sie weit aufgerissen. Die Hände waren mit großen, silberfarbenen Nägeln am Holz fixiert. Für jede Hand drei. Die Füße hatten sie mit dicken Eisennägeln angeschlagen. Ein junger Rumäne links neben Reiter, nicht älter als fünfzehn und in viel zu großer Uniform, betete. Er fragte, ob sich noch jemand auf dem Anwesen befinde. Außer uns niemand, antworteten sie, das dritte Armeekorps oder was davon übrig war, sei vor drei Tagen an der Bahnstation von Litacz angekommen, und statt einen sichereren Ort im Westen aufzusuchen, habe der General zu seinem Schloss gewollt, das sie menschenleer vorfanden. Es gab weder Bedienstete noch ein einziges Stück Vieh, das man hätte essen können. Zwei Tage lang schloss sich der General in seinem Zimmer ein und wollte nicht herauskommen. Die Soldaten streiften durchs Haus, bis sie den Weinkeller entdeckten, dessen Tür sie eintraten. Trotz der Vorbehalte einiger Offiziere fingen alle an, sich zu betrinken. In dieser Nacht desertierte die Hälfte des dritten Korps. Die, die blieben, taten es aus eigenem Antrieb, ohne dass jemand sie gezwungen hätte, sie taten es, weil sie General Entrescu liebten. Oder etwas Ähnliches. Einige unternahmen Raubzüge in die benachbarten Dörfer und kehrten nicht zurück. Einige schrien vom Hof aus nach dem General, er solle wieder den Befehl übernehmen und entscheiden, was zu tun sei. Aber der General blieb in seinem Zimmer und öffnete niemandem die Tür. In einer durchzechten Nacht traten die Soldaten die Tür ein. General Entrescu saß in einem Sessel, umgeben von Kerzen und Kandelabern, und blätterte in einem Fotoalbum. Dann geschah, was geschehen ist. Anfangs verteidigte sich Entrescu noch und schlug mit der Reitpeitsche nach ihnen, aber die Soldaten waren toll vor Hunger und Angst, sie töteten ihn und schlugen ihn dann ans Kreuz.
    »Muss anstrengend gewesen sein, so ein großes Kreuz zu bauen«, sagte Reiter.
    »Wir haben es gebaut, bevor wir den General umgebracht haben«, sagte ein Rumäne. «Keine Ahnung, warum wir es gebaut haben, aber es war sogar noch vor dem Besäufnis fertig.«
    Dann verluden die Rumänen weiter ihre Beute, und ein paar Deutsche halfen ihnen dabei, andere beschlossen, sich im Haus umzusehen, vielleicht gab es ja im Weinkeller noch Alkohol, und der Gekreuzigte war wieder allein. Bevor sie gingen, fragte Reiter noch, ob sie einen gewissen Popescu kannten, der den General immer begleitet und wahrscheinlich als sein Sekretär gearbeitet habe.
    »Ach, der Hauptmann Popescu«, sagte ein Rumäne nickend und in einem Ton, als hätte er Hauptmann Schnabeltier gesagt. »Der muss bereits in Bukarest sein.«
    Als sie dann, ein Staubwölkchen hinter sich herziehend, zurück in Richtung Dickicht fuhren, glaubte Reiter, schwarze Vögel über dem Vorplatz kreisen zu sehen, von dem aus General Entrescu den Lauf des Krieges verfolgte. Einer der Deutschen, der, der am Maschinengewehr saß, bemerkte lachend, was werden wohl die Russen denken, wenn sie den Gekreuzigten sehen. Niemand antwortete.
    Über eine Niederlage nach der anderen gelangte Reiter schließlich zurück nach Deutschland. Im Mai 1945, nachdem er sich zwei Monate im Wald versteckt gehalten hatte, ergab er sich, fünfundzwanzigjährig, amerikanischen Soldaten und kam in ein Gefangenenlager in der Umgebung von Ansbach. Dort konnte er zum ersten Mal seit langer Zeit duschen und bekam anständiges Essen.
    Eine Hälfte der Gefangenen schlief in Baracken, die von schwarzen amerikanischen Soldaten errichtet worden waren, die andere in großen Armeezelten. Alle zwei Tage kamen Besucher ins Lager, die streng nach alphabetischer Reihenfolge die Papiere der Gefangenen überprüften. Anfangs stellten sie einen Tisch unter freiem Himmel auf, und die Gefangenen traten heran und beantworteten einer nach

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