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dem anderen ihre Fragen. Später errichteten die schwarzen Soldaten mit Unterstützung einiger Deutscher extra eine Baracke mit drei Räumen, und fortan bildeten sich vor ihr die Schlangen. Reiter kannte niemanden im Lager. Seine Kameraden von der 79. und später der 303. waren tot oder in russischer Gefangenschaft oder wie er desertiert. Was von der Division übrig war, nahm Kurs auf Pilsen im Protektorat Böhmen und Mähren, als Reiter in der allgemeinen Verwirrung seiner Wege ging. Im Gefangenenlager bei Ansbach war er bemüht, sich mit niemandem einzulassen. Es gab Soldaten, die an den Abenden sangen. Von ihren Wachtposten aus sahen ihnen die Schwarzen zu und lachten, aber da offenbar keiner die Texte verstand, durften sie singen, bis Schlafenszeit war. Andere spazierten von einem Ende des Lagers zum anderen, Arm in Arm und im Gespräch über die seltsamsten Themen. Es hieß, zwischen Sowjets und Alliierten würden schon bald Feindseligkeiten ausbrechen. Man spekulierte über die Umstände von Hitlers Tod. Man sprach über den Hunger und wie die Kartoffelernte Deutschland wieder einmal vor der Katastrophe retten würde.
Im Feldbett neben Reiter schlief ein fünfzig bis sechzig Jahre alter Mann, der beim Volkssturm gewesen war. Er hatte sich den Bart stehen lassen, und sein Deutsch war sanft und leise, als könnte nichts, was um ihn herum geschah, ihn aus der Ruhe bringen. Tagsüber plauderte er beim Herumspazieren und während der Mahlzeiten meist mit zwei anderen ehemaligen Volkssturmkämpfern. Manchmal jedoch sah Reiter ihn allein, wie er mit Bleistift allerlei Papierfetzen vollschrieb, die er aus der Tasche kramte und hinterher sorgfältig wieder dort verwahrte. Einmal fragte er ihn kurz vor dem Einschlafen, was er schriebe, und der Mann antwortete, er versuche, seine Gedanken schriftlich festzuhalten. Was, fügte er hinzu, gar nicht so einfach sei. Reiter fragte nicht weiter, aber fortan fand der ehemalige Volkssturmkämpfer immer nachts, immer vor dem Einschlafen, einen Vorwand, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Seine Frau, erzählte er, sei umgekommen, als die Russen in Küstrin, ihrer Heimatstadt, einmarschierten, aber er trage niemandem etwas nach, Krieg sei Krieg, sagte er, und wenn der Krieg aus sei, sollten am besten alle einander vergeben und neu anfangen.
Wie anfangen? wollte Reiter wissen. Von vorn anfangen, flüsterte er in seinem bedächtigen Deutsch. Frohgemut und mit Phantasie. Der Mann hieß Zeller, war hager und in sich gekehrt. Wenn man ihn im Lager herumspazieren sah, immer in Begleitung der beiden anderen Volkssturmkämpfer, ging von seiner Person, vielleicht durch den Kontrast zu seinen Kameraden, eine große Würde aus. Eines Nachts fragte ihn Reiter, ob er Familie habe.
»Meine Frau«, erwiderte Zeller.
»Aber Ihre Frau ist tot«, sagte Reiter.
»Ich hatte auch einen Sohn und eine Tochter«, hörte er ihn flüstern, »aber die sind auch schon gestorben. Mein Sohn in der Schlacht im Kursker Bogen und meine Tochter während eines Bombenangriffs auf Hamburg.«
»Sonst haben Sie keine Verwandten?«, fragte Reiter.
»Zwei Enkelkinder, Zwillinge, ein Mädchen und ein Junge, aber sie sind beim selben Bombenangriff umgekommen wie meine Tochter.«
»Um Himmels willen«, sagte Reiter.
»Mein Schwiegersohn ist auch gestorben, aber nicht während des Bombenangriffs, sondern einige Tage später, vor Schmerz über den Tod seiner Kinder und seiner Frau.«
»Schrecklich«, sagte Reiter.
»Er hat sich mit Rattengift das Leben genommen«, flüsterte Zeller in der Dunkelheit. »Er starb drei Tage lang, unter fürchterlichsten Qualen.«
Reiter wusste nicht mehr, was er sagen sollte, auch weil der Schlaf ihn übermannte, und das Letzte, was er hörte, war Zellers Stimme, die sagte, Krieg sei Krieg, und das Beste wäre, alles, alles, alles zu vergessen. Zeller war von einer beneidenswerten Gemütsruhe. Einer Gemütsruhe übrigens, die nur in Gefahr geriet, wenn neue Gefangene eintrafen oder die Besucher wiederkamen, die in den Baracken einen nach dem anderen verhörten. Nach drei Monaten waren die an der Reihe, deren Nachnamen mit Q, R und S begannen, und Reiter konnte mit den Soldaten und Leuten in Zivil reden, die höflich baten, sich frontal und im Profil zu zeigen, und dann einige Seiten in einem Ordner durchsahen, der wahrscheinlich voller Fotografien war. Dann fragte ihn einer der Zivilisten, was er während des Krieges gemacht habe, und Reiter musste ihnen erzählen, dass er mit der 79.
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