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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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nichts sagen, mein Junge, ich bin und ich war nie berühmt, nur mein Name ist in der Zeit, als du fort von zu Hause warst, wie ein Krebsgeschwür gewachsen und taucht jetzt auf den unglaublichsten Schriftstücken auf«, sagte Sammer in seinem sanften Deutsch, das immer schneller wurde. »Ich war natürlich nie beim Volkssturm. Ich habe gedient, ich möchte nicht, dass du glaubst, ich hätte nicht gedient, ich habe es getan wie jeder anständig geborene Deutsche, aber mein Platz war auf anderen Bühnen, nicht auf den militärischen Schlachtfeldern, sondern auf denen von Wirtschaft und Politik. Meine Frau ist Gott sei Dank nicht gestorben«, fügte er nach einem längeren Schweigen hinzu, in dessen Verlauf Reiter und er das Licht betrachteten, das das Armeezelt einhüllte wie der Flügel eines Vogels oder eine Klaue. »Mein Sohn ist gefallen, das ist wahr. Mein armer Sohn. Ein intelligenter Junge, der Sport und Bücher liebte. Was kann man von einem Sohn mehr verlangen? Ernst, ein Athlet, ein großer Leser. Er fiel in Kursk. Ich war damals stellvertretender Leiter einer Behörde, deren Aufgabe es war, das Reich mit Arbeitskräften zu versorgen, und deren Hauptniederlassung sich in einem polnischen Dorf befand, wenige Kilometer vom Generalgouvernement entfernt.
    Als ich die Nachricht bekam, war es mit meinem Glauben an den Krieg vorbei. Meine Frau zeigte obendrein Symptome einer geistigen Erkrankung. Eine solche Situation wünsche ich niemandem. Nicht einmal meinem schlimmsten Feind! Ein in der Blüte seiner Jahre gefallener Sohn, eine unter ständiger Migräne leidende Frau und eine ermüdende Arbeit, die meine ganze Kraft und Konzentration verlangte. Aber dank meines methodischen Charakters und meiner Zähigkeit hielt ich durch. In Wirklichkeit arbeitete ich, um mein Unglück zu vergessen. Das Ergebnis war jedenfalls, dass man mich zum Leiter der staatlichen Behörde ernannte, in der ich Dienst tat. Von einem Tag auf den anderen verdreifachte sich mein Pensum. Ich musste nicht mehr nur Arbeitskräfte in die deutschen Fabriken schicken, sondern auch die Verwaltung dieser polnischen Region in Gang halten, in der es immer regnete, eine triste Provinzgegend, die wir zu germanisieren versuchten, in der ein Tag grauer war als der andere und die Erde wie von einem riesigen Rußfleck bedeckt zu sein schien und niemand sich auf anständige Art vergnügte, mit dem Erfolg, dass bis hin zu zehnjährigen Kindern alle Alkoholiker waren, stellen Sie sich das vor, arme Kinder, verwahrloste Kinder übrigens, die, wie gesagt, nur Alkohol im Kopf hatten und Fußball.
    Manchmal sah ich sie von meinem Bürofenster aus: Sie spielten auf der Straße mit einem Lumpenball, und ihre Läufe und Sprünge waren wirklich erbärmlich, weil sie wegen ihres Alkoholpegels ständig umkippten oder todsichere Torchancen vergaben. Jedenfalls, ich will Sie nicht langweilen, endeten die Spiele in der Regel mit Prügeleien. Oder mit Fußtritten. Oder mit Bierflaschen, die auf dem Schädel des Gegners zertrümmert wurden. Und ich sah das alles von meinem Fenster aus und wusste nicht, was tun. Mein Gott, wie dieser Seuche Einhalt gebieten, wie die Lage dieser unschuldigen Knirpse verbessern?
    Ich gestehe: Ich fühlte mich allein, sehr allein, sehr allein. Auf meine Frau konnte ich nicht zählen, die Ärmste verließ ihr abgedunkeltes Schlafzimmer nicht, außer um mich auf Knien zu bitten, ihr die Rückkehr nach Deutschland, nach Bayern, zu erlauben, wo sie zu ihrer Schwester gehen wollte. Mein Sohn war tot. Meine Tochter lebte in München, glücklich verheiratet und ohne Verständnis für meine Probleme. Die Arbeit türmte sich, und meine Mitarbeiter verloren mit immer größerer Regelmäßigkeit die Nerven. Der Krieg lief nicht gut, er interessierte mich auch nicht mehr. Wie kann der Krieg jemanden interessieren, der seinen Sohn verloren hat? Kurz gesagt: Mein Leben war ständig von dunklen Wolken überschattet.
    Dann erhielt ich einen neuen Befehl: Ich sollte mich um ein aus Griechenland kommendes Kontingent von Juden kümmern. Ich glaube, sie kamen aus Griechenland. Vielleicht waren es auch ungarische oder kroatische Juden. Was ich nicht glaube, denn die Kroaten brachten ihre Juden selber um. Vielleicht auch serbische Juden. Nehmen wir an, es waren Griechen. Sie schickten mir also eine Zugladung griechischer Juden. Mir! Ich hatte nichts vorbereitet, um sie aufzunehmen. Der Befehl kam ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Meine Behörde war eine zivile, keine

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