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der Beamte.
Bevor er auflegte, sagte ich, dass sich ein Kontingent Juden in meiner Obhut befinde, was ich mit denen machen solle. Er antwortete nicht. Die Verbindung war unterbrochen worden, oder er musste noch andere wie mich anrufen oder die Sache mit den Juden interessierte ihn nicht. Es war vier Uhr morgens. Ich konnte nicht mehr zurück ins Bett. Ich sagte meiner Frau, wir würden fortgehen, dann gab ich Befehl, den Bürgermeister und den Polizeichef beizuschaffen. Als ich mein Büro betrat, sah ich in ihre übernächtigten Gesichter. Die beiden hatten Angst.
Ich beruhigte sie, sagte, wenn wir schnell handelten, würde niemand in Gefahr geraten. Wir brachten unsere Leute auf Trab. Bevor der Morgen graute, waren die ersten Evakuierten auf dem Weg nach Westen. Ich blieb bis zum Schluss. Verbrachte einen weiteren Tag und eine weitere Nacht im Städtchen. In der Ferne hörte man den Donner der Kanonen. Ich ging zu den Juden, der Polizeichef ist mein Zeuge, und sagte, sie sollten gehen. Dann nahm ich die beiden Polizisten mit, die dort Wache standen, und überließ die Juden in der alten Gerberei ihrem Schicksal. Ich vermute mal, dass es die Freiheit ist.
Mein Chauffeur sagte, er habe einige Soldaten der Wehrmacht vorbeiziehen sehen, ohne anzuhalten. Ich ging hinauf in mein Büro, ohne genau zu wissen, was ich dort wollte. Vergangene Nacht hatte ich ein paar Stunden auf dem Sofa geschlafen, und ich hatte bereits alles verbrannt, was man verbrennen musste. Die Straßen des Örtchens waren leer, doch hinter einigen Fenstern waren die Köpfe der Polen zu erahnen. Anschließend ging ich hinunter, stieg ins Auto, und wir fuhren davon, sagte Sammer zu Reiter.
Ich war ein gerechter Amtsleiter. Ich habe, meiner Inneren Natur folgend, gute Dinge getan, und ich habe, den Umständen des Krieges gehorchend, schlechte Dinge getan. Jetzt aber reißen die betrunkenen polnischen Kinder den Mund auf und sagen, ich hätte ihre Kindheit ruiniert, sagte Sammer zu Reiter. Ich? Ich soll ihre Kindheit ruiniert haben? Der Alkohol hat ihre Kindheit ruiniert! Der Fußball hat ihre Kindheit ruiniert! Ihre faulen, verkommenen Mütter haben ihre Kindheit ruiniert! Nicht ich.«
»Ein anderer an meiner Stelle«, sagte Sammer zu Reiter, »hätte all die Juden eigenhändig umgebracht. Ich habe das nicht getan. Das entspricht nicht meiner Art.«
Einer der Männer, mit denen Sammer lange Gänge durch das Gefangenenlager unternahm, war der Polizeichef. Der andere war der Leiter der Feuerschutzpolizei. Der Bürgermeister, sagte Sammer eines Nachts, ist kurz nach Kriegsende an Lungenentzündung gestorben. Der Chauffeur hatte sich an einer Kreuzung aus dem Staub gemacht, nachdem der Wagen endgültig verreckt war.
An manchen Nachmittagen betrachtete Reiter Sammer von weitem und bemerkte, dass dieser wiederum ihn beobachtete, Blicke aus Augenwinkeln, aus denen Verzweiflung, Nervosität sowie Angst und Misstrauen sprachen.
»Wir tun Dinge, wir sagen Dinge, die wir später aus tiefster Seele bereuen«, sagte Sammer eines Tages zu ihm, während sie in der Frühstücksschlange standen.
Ein andermal sagte er:
»Wenn die amerikanischen Polizisten wiederkommen und mich verhören, werden sie mich mit Sicherheit festnehmen, und man wird mich der öffentlichen Schande preisgeben.«
Wenn Sammer mit Reiter sprach, hielten sich der Polizeichef und der Chef der Feuerschutzpolizei ein paar Meter abseits, als wollten sie sich nicht in die Nöte ihres ehemaligen Vorgesetzten einmischen. Eines Morgens fand man Sammers Leiche auf halbem Weg zwischen der Zeltunterkunft und den Latrinen. Jemand hatte ihn erwürgt. Die Amerikaner befragten etwa zehn Gefangene, darunter auch Reiter, der aussagte, in jener Nacht nichts Außergewöhnliches gehört zu haben, dann nahmen sie den Leichnam mit und ließen ihn im Massengrab des Ansbacher Friedhofs begraben.
Als Reiter das Kriegsgefangenenlager verlassen konnte, ging er nach Köln. Dort lebte er in Bretterbuden in der Nähe des Bahnhofs, später in einem Souterrain, das er sich mit dem Veteran einer Panzerdivision teilte, einem wortkargen Burschen mit halbseitig verbranntem Gesicht, der ganze Tage ohne Essen auskommen konnte, und mit einem Typen, der behauptete, früher bei einer Zeitung gearbeitet zu haben, und im Gegensatz zu seinem Kameraden umgänglich und gesprächig war.
Der Panzerveteran war vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt, der ehemalige Journalist um die sechzig, und doch wirkten beide manchmal
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