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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Verheerendes, aber doch richtige Bombenangriffe. Ihre Mutter fand Arbeit in einer Brauerei und die Töchter übernahmen Gelegenheitsjobs, halfen in Büros aus, vertraten im Krankheitsfall, erledigten Botendienste, und ab und zu fanden die Jüngeren sogar Zeit, in die Schule zu gehen.
    Trotz des ganzen Hin und Hers war das Leben eintönig, und als der Frieden kam, ertrug Ingeborg es nicht länger, und eines Morgens, als ihre Mutter und ihre Schwestern außer Haus waren, ging sie fort nach Köln.
    »Ich war mir sicher«, sagte sie zu Reiter, »ich würde dich oder jemanden wie dich hier finden.«
    Das war, in groben Zügen, alles, was passiert war, seit sie sich im Park geküsst hatten, damals, als Reiter nach Hugo Halder suchte und sie ihm im Gegenzug die Geschichte der Azteken erzählte. Natürlich wurde Reiter schnell klar, dass Ingeborg völlig verrückt war, vielleicht war sie es aber auch schon, als er sie kennenlernte, und ihm fiel auf, dass sie krank war, obwohl das auch daher rühren mochte, dass sie Hunger hatte.
    Er nahm sie mit zu sich in das Souterrain, aber da Ingeborg stark hustete und ihre Lungen angegriffen schienen, suchte er eine neue Unterkunft. Er fand sie im Dachgeschoss eines halb zerstörten Gebäudes. Ein Aufzug fehlte, und einige Abschnitte der Treppe waren unsicher, es gab Stufen, die unter dem Gewicht der Benutzer entsprechend nachgaben oder sogar Löcher aufwiesen, die ins Nichts führten, ein Nichts aus Bauschutt, in dem man noch die Splitter der Bomben erkennen oder erahnen konnte. Aber ihnen machte es nichts aus, dort zu wohnen: Ingeborg wog kaum neunundvierzig Kilo, und Reiter war zwar sehr groß, aber doch sehr hager und dünn, und die Stufen hielten ihrem Gewicht mühelos stand. Bei anderen Mietern war das nicht der Fall. Ein kleiner, sympathischer Brandenburger, der für die Alliierten arbeitete, stürzte in ein Loch zwischen dem zweiten und dem dritten Stock und brach sich das Genick. Immer, wenn er Ingeborg sah, hatte der Brandenburger sie aufmerksam und freundlich gegrüßt und ihr jedes Mal die Blume geschenkt, die er im Knopfloch trug.
    Bevor er abends zur Arbeit ging, überzeugte sich Reiter davon, dass es Ingeborg an nichts fehlte, damit sie nicht im trüben Kerzenschein die Treppe hinunterlaufen musste, obwohl Reiter im Grunde wusste, dass Ingeborg (und auch ihm selbst) so vieles fehlte, dass seine Vorkehrungen schon im Moment, da er sie traf, vollkommen nutzlos wurden. Anfangs blieb Sexualität in ihrer Beziehung ausgeklammert. Ingeborg war sehr schwach, und das Einzige, wozu sie Lust hatte, war reden oder, wenn sie allein war und es Kerzen gab, lesen. Reiter schlief gelegentlich mit den Mädchen, die in der Bar arbeiteten. Besonders leidenschaftlich ging es dabei nicht zu, im Gegenteil. Sie schliefen miteinander, als würden sie sich über Fußball unterhalten, manchmal hörten sie nicht einmal auf zu rauchen oder amerikanisches Kaugummi zu kauen, eine aufkommende neue Mode, was die Nerven beruhigte, das Kaugummikauen und die unpersönliche Art des Vögelns, obwohl der Akt alles andere als unpersönlich war, eher pragmatisch, als wäre, hatte man erst einmal die Ungeschminktheit des Schlachthofs erreicht, alles Weitere inakzeptabel theatralisch.
    Bevor er die Stelle in der Bar fand, hatte Reiter mit anderen Mädchen geschlafen, im Kölner Bahnhof oder in Solingen oder in Remscheid oder in Wuppertal, mit Arbeiterinnen oder Bäuerinnen, die es gerne hatten, wenn die Männer (sofern sie gesund aussahen) in ihren Mündern kamen. An manchen Nachmittagen bat Ingeborg Reiter, ihr von diesen Abenteuern, wie sie das nannte, zu erzählen, und Reiter zündete sich eine Zigarette an und erzählte.
    »Die Mädchen in Solingen dachten, Sperma würde Vitamine enthalten«, sagte Ingeborg, »genau wie die Mädchen, die du im Kölner Bahnhof gevögelt hast. Ich kann sie gut verstehen«, sagte Ingeborg, »auch ich habe mich eine Zeitlang im Kölner Bahnhof herumgetrieben, habe mit ihnen geredet und dasselbe gemacht wie sie.«
    »Hast du auch wildfremden Männern einen geblasen, weil du glaubtest, Sperma würde satt machen?«, fragte Reiter.
    »Habe ich, ja«, sagte Ingeborg. »Wenn sie gesund aussahen, wenn sie nicht den Eindruck machten, als seien sie vom Krebs oder der Syphilis zerfressen«, sagte Ingeborg. »Die Bauernmädchen, die sich im Bahnhof herumtrieben, die Arbeiterinnen, die Verrückten, die sich verirrt hatten oder von zu Hause fortgelaufen waren, sie alle glaubten, wir alle

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