2666
wie kleine Jungs. Der Journalist hatte während des Krieges eine Reihe von Artikeln geschrieben, die das heldenhafte Leben in einigen Panzerdivisionen im Osten wie im Westen beschrieben, und die Zeitungsausschnitte aufgehoben, die wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen der einsilbige Panzergrenadier Gelegenheit gehabt hatte. Manchmal machte er den Mund auf und sagte:
»Du hast genau getroffen, was das Leben eines Panzergrenadiers im Kern ausmacht, Otto.«
Der Journalist antwortete mit bescheidener Miene:
»Für mich ist es die größte Belohnung, Gustav, wenn mir jemand wie du, ein altgedienter Panzergrenadier, bestätigt, dass ich mich nicht komplett geirrt habe.«
»Du hast dich in keinem Punkt geirrt, Otto«, antwortete der Panzergrenadier.
»Ich danke dir für deine Worte, Gustav«, erwiderte der Journalist.
Die beiden verdienten sich gelegentlich ihr Geld bei Aufräumarbeiten für die Stadt oder durch den Verkauf von dem, was sie unter dem Schutt fanden. Wenn das Wetter gut war, gingen sie aufs Land, und Reiter hatte dann für ein oder zwei Wochen das Souterrain für sich allein. Die ersten Tage in Köln verbrachte er damit, eine Zugfahrkarte in sein Heimatdorf aufzutreiben. Dann arbeitete er als Türsteher in einer Bar, in der nordamerikanische und britische Soldaten verkehrten, die gutes Trinkgeld gaben und ihn mit Aufträgen außer der Reihe bedachten, etwa damit, eine Wohnung in einem bestimmten Viertel zu finden oder sie mit Mädchen bekannt zu machen oder sie mit Leuten vom Schwarzmarkt in Verbindung zu bringen. So blieb er also in Köln.
Tagsüber schrieb und las er. Schreiben war einfach, er brauchte dafür nur ein Heft und einen Bleistift. Lesen war etwas schwieriger, da die öffentlichen Bibliotheken noch nicht wieder geöffnet hatten und die wenigen Buchhandlungen (meistens von fahrenden Händlern), die man finden konnte, astronomische Preise für Bücher verlangten. Nichtsdestotrotz las Reiter, und nicht nur er: Manchmal hob er den Blick von seinem Buch, und alle Leute um ihn herum waren ebenfalls mit Lesen beschäftigt. Als wenn die Deutschen sich nur ums Lesen und ums Essen sorgten, was nicht stimmte, aber manchmal, vor allem in Köln, schien es so.
Dagegen hatte das Interesse an Sex stark nachgelassen, fand Reiter, als hätte der Krieg die Vorräte an Testosteron, an Pheromonen und männlicher Lust erschöpft, und als wollte niemand mehr Liebe machen. Reiters Eindruck nach vögelten nur noch die Prostituierten, aber das war schließlich auch ihr Beruf, und einige Frauen, die mit den Besatzern ausgingen, aber selbst bei denen verdeckte die Lust etwas anderes: Ein Unschuldstheater, ein tiefgefrorenes Schlachthaus, eine einsame Straße und ein Kino. Die Frauen, die er sah, kamen ihm vor wie kleine Mädchen, eben erwacht aus einem schrecklichen Alptraum.
Eines Nachts, als er den Eingang der Bar in der Spenglerstraße bewachte, ertönte aus der Dunkelheit eine weibliche Stimme, die seinen Namen rief. Reiter schaute, sah niemanden und nahm an, es handele sich um eine von den Prostituierten, die einen seltsamen, manchmal schwer verständlichen Humor an den Tag legten. Als es noch einmal rief, wusste er jedoch, dass die Stimme keiner der Frauen gehörte, die in der Bar verkehrten, und fragte zurück, was man von ihm wolle.
»Ich wollte dir nur hallo sagen«, sagte die Stimme.
Da erkannte er eine schattenhafte Gestalt, und mit zwei Sätzen war er auf dem gegenüberliegenden Gehsteig, erwischte sie beim Arm und zog sie ans Licht. Das Mädchen, das nach ihm gerufen hatte, war sehr jung. Als er sie fragte, was sie wolle, sagte das Mädchen, sie sei seine Freundin und es mache sie offen gestanden traurig, dass er sie nicht mehr erkenne.
»Ich muss wohl sehr hässlich sein«, sagte sie, »aber wenn du noch ein deutscher Soldat wärst, würdest du versuchen, es dir nicht anmerken zu lassen.«
Reiter schaute sie genau an, konnte sich aber beim besten Willen nicht an sie erinnern.
»Der Krieg hat viel mit Amnesie zu tun«, sagte das Mädchen.
Dann sagte sie:
»Amnesie ist, wenn man das Gedächtnis verliert und sich an nichts mehr erinnert, weder an den eigenen Namen noch an den seiner Freundin.«
Und setzte hinzu:
»Es gibt auch eine Teilamnesie, das ist, wenn einer sich an alles erinnert oder glaubt, sich an alles zu erinnern, und nur eine Sache vergessen hat, die einzige Sache in seinem Leben, die wirklich wichtig ist.«
Ich kenne die Kleine, dachte Reiter, als er sie reden hörte, aber es fiel
Weitere Kostenlose Bücher