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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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die in mir das Bild eines Wiesels hervorrief. In dieser Nacht redeten wir bis zum frühen Morgen. Am Montag drauf verließen die Polizisten nicht mit den Kehrbrigaden das Städtchen, sondern warteten geduldig auf das Auftauchen der fußballspielenden Kinder. Insgesamt brachten sie mir fünfzehn von ihnen.
    Ich ließ sie in den Festsaal des Rathauses bringen und kam in Begleitung meiner Sekretäre und meines Chauffeurs nach. Als ich sie sah, so über die Maßen bleich, über die Maßen dünn, über die Maßen versessen auf Fußball und Alkohol, empfand ich Mitleid mit ihnen. Wie sie so reglos dastanden, sahen sie weniger aus wie Kinder als wie Kindergerippe, aufgegebene Zeichnungen, Wille und Knochen.
    Ich sagte, es gebe Wein für alle, auch Brot und Wurst. Sie reagierten nicht. Ich wiederholte das mit dem Wein und dem Essen und fügte hinzu, wahrscheinlich gebe es auch etwas, das sie ihren Familien mitbringen könnten. Ich deutete ihr Schweigen als Zustimmung und schickte sie auf einem Lastwagen zur Schlucht, zusammen mit fünf Polizisten und einer Ladung von zehn Gewehren und einem MG, das bei erster Gelegenheit versagte. Dann befahl ich den übrigen Polizisten, zusammen mit vier bewaffneten Bauern, die ich unter Androhung, ihre fortwährenden Betrügereien am Staat aufzudecken, zur Teilnahme gezwungen hatte, drei komplette Kehrbrigaden zur Schlucht zu bringen. Außerdem gab ich Befehl, dass an diesem Tag kein Jude unter welchem Vorwand auch immer die alte Gerberei verlassen durfte.
    Um zwei Uhr nachmittags waren die Polizisten zurück, die die Juden zur Schlucht gebracht hatten. Sie aßen alle in der Bahnhofskneipe, und um drei eskortierten sie schon wieder weitere dreißig Juden zur Schlucht. Um zehn Uhr abends kamen alle zurück, die Eskorte, die betrunkenen Jungs und die Polizisten, die ihrerseits die Jungs eskortiert und im Gebrauch der Waffen unterwiesen hatten.
    Alles sei gut gelaufen, erzählte mir einer meiner Sekretäre, die Jungen hätten im Akkord gearbeitet, wer hinschauen wollte, schaute hin, wer nicht hinschauen wollte, wandte sich ab und schaute wieder hin, wenn alles vorbei war. Am nächsten Tag ließ ich unter den Juden das Gerücht verbreiten, ich würde alle, wegen unseres Hilfskräftemangels in kleinen Gruppen, in ein für ihren Aufenthalt geeignetes Arbeitslager verlegen. Dann sprach ich mit einer Gruppe polnischer Mütter, die zu beruhigen mir nicht schwerfiel, und beaufsichtigte von meinem Büro aus zwei erneute Judentransporte in die Schlucht, jeder zwanzig Personen stark.
    Aber die Probleme kehrten zurück, als es wieder zu schneien begann. Einer meiner Sekretäre meinte, es sei unmöglich, in der Schlucht weitere Gräber auszuheben. Ich sagte ihm, das könne doch nicht sein. Springender Punkt war, wie sich schließlich herausstellte, die Art, wie die Gräber ausgehoben worden waren, horizontal, nicht vertikal, in die Breite der Schlucht, nicht in die Tiefe. Ich organisierte einen Trupp und beschloss, die Sache noch am selben Tag zu klären. Der Schnee hatte jede noch so kleine Spur der Juden verwischt. Nach kurzer Zeit hörte ich, wie ein alter Landwirt namens Barz schrie, da sei etwas. Ich ging es mir anschauen. Ja, da war etwas.
    ›Soll ich weitergraben?‹, fragte Barz.
    ›Seien Sie kein Idiot‹, antwortete ich, ›machen Sie es wieder zu, lassen Sie alles, wie es war.‹
    Jedes Mal, wenn einer etwas fand, antwortete ich das Gleiche. Aufhören. Zumachen. Graben Sie woanders. Denken Sie daran, es geht nicht darum, zu finden, sondern darum, nicht zu finden. Aber alle meine Männer fanden etwas, und wie mein Sekretär gesagt hatte, sah es wirklich so aus, als sei am Grund der Schlucht für nichts mehr Platz.
    Und doch hatte meine Hartnäckigkeit am Ende Erfolg. Wir fanden eine leere Stelle, und dort ließ ich alle meine Leute arbeiten. Ich sagte ihnen, sie sollten kräftig graben, immer in die Tiefe, und immer noch tiefer, als wenn sie geradewegs in die Hölle wollten, und ich sorgte dafür, dass der Graben breit wurde wie ein Schwimmbecken. Im nächtlichen Schein der Laternen brachten wir die Arbeit schließlich zu Ende und kehrten heim. Tags darauf konnten wir wegen schlechten Wetters nur zwanzig Juden in die Schlucht führen. Die Jungs betranken sich wie noch nie. Einige konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten, andere übergaben sich auf der Rückfahrt. Der Lastwagen setzte sie am Marktplatz ab, unweit meines Büros, und die meisten blieben dort unter der Überdachung des

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