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ihm einfach nicht ein, wo und unter welchen Umständen er sie kennengelernt hatte. Er beschloss daher, mit Bedacht vorzugehen, und fragte sie, ob sie etwas trinken wolle. Das Mädchen schaute zum Eingang der Bar hinüber und willigte nach kurzem Nachdenken ein. An einem Tisch nahe dem Durchgang zur Tür tranken sie einen Tee. Die Bedienung fragte Reiter, wer das Küken sei.
»Meine Freundin«, sagte Reiter.
Die Unbekannte lächelte die Bedienung an und nickte mit dem Kopf.
»Nettes Mädchen«, sagte die Frau.
»Und sehr fleißig«, sagte die Unbekannte.
Die Frau zog die Mundwinkel nach unten und machte ein Gesicht, als wollte sie sagen: Forsches Mädel. Dann sagte sie: Wir werden ja sehen, und ging. Nach einer Weile schlug Reiter den Kragen seiner schwarzen Lederjacke hoch und stellte sich wieder an den Eingang, da neue Leute kamen; die Unbekannte blieb am Tisch sitzen, wo sie ab und zu eine Seite in einem Buch las und die meiste Zeit die Frauen und Männer anschaute, die in das Lokal strömten. Nach einer Weile kam die Bedienung, die ihnen den Tee gebracht hatte, nahm sie beim Arm und schob sie mit der Entschuldigung, dass der Tisch für Kunden gebraucht würde, zur Tür hinaus. Die Unbekannte verabschiedete sich höflich, bekam von der Frau aber keine Antwort. Reiter sprach gerade mit zwei amerikanischen Soldaten, und das Mädchen wollte nicht stören. Stattdessen überquerte sie die Straße, suchte sich ein Plätzchen in einem Toreingang und beobachtete von dort eine Zeitlang das ständige Rein und Raus an der Bar.
Aus dem Augenwinkel behielt Reiter während seiner Arbeit den Torbogen des gegenüberliegenden Hauses im Blick, und manchmal glaubte er ein paar leuchtende Katzenaugen zu sehen, die aus dem Dunkeln zu ihm herübersahen. Nach der Arbeit trat er in den Toreingang und wollte sie rufen, aber ihm fiel ein, dass er ihren Namen nicht wusste. Mit Hilfe eines Streichholzes fand er sie schlafend in einer Ecke. Auf Knien, während das Streichholz zwischen seinen Fingern herunterbrannte, betrachtete er sekundenlang ihr schlafendes Gesicht. Da auf einmal erinnerte er sich.
Als sie erwachte, war Reiter immer noch an ihrer Seite, nur hatte sich der Toreingang in ein Zimmer mit leicht weiblicher Note verwandelt, mit Künstlerfotos an den Wänden und einer Sammlung Puppen und Teddybären auf einer Kommode. Am Boden jedoch türmten sich Whiskykisten und Weinflaschen. Eine grüne Steppdecke reichte ihr bis zum Hals. Jemand hatte ihr die Schuhe ausgezogen. Sie fühlte sich so wohl, dass sie die Augen wieder schloss. Aber dann hörte sie Reiters Stimme, der zu ihr sagte: Du bist das Mädchen, das in der ehemaligen Wohnung von Hugo Halder gewohnt hat. Sie nickte, ohne die Augen zu öffnen.
»Ich weiß deinen Namen nicht mehr«, sagte Reiter.
Sie drehte sich um und sagte, indem sie ihm den Rücken zuwandte: »Dein Gedächtnis ist erbärmlich, ich heiße Ingeborg Bauer.«
»Ingeborg Bauer«, wiederholte Reiter, als läge in diesen beiden Worten sein Schicksal beschlossen.
Daraufhin schlief sie erneut ein, und als sie erwachte, war sie allein.
Als Ingeborg Bauer an diesem Morgen mit Reiter durch die zerstörte Stadt lief, erzählte sie, dass sie mit Unbekannten in einem Haus in der Nähe des Bahnhofs wohnte. Ihr Vater war bei einem Bombenangriff umgekommen. Ihre Mutter und ihre Schwestern hatten Berlin verlassen, bevor die Stadt von den Russen eingeschlossen worden war. Zuerst hatten sie auf dem Land gelebt, im Haus eines Bruders ihrer Mutter, aber wider Erwarten gab es auch auf dem Land nichts zu essen, und die Mädchen wurden regelmäßig von ihren Onkeln und Vettern vergewaltigt. Ingeborg Bauer zufolge waren die Wälder voller Gruben, in denen die Dörfler Leute aus der Stadt verscharrten, die sie zuvor ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet hatten.
»Wurdest du auch vergewaltigt?«, fragte Reiter.
Nein, sie nicht, aber eine ihrer jüngeren Schwestern wurde vergewaltigt, von einem Vetter, einem dreizehnjährigen Jungen, der zur Hitlerjugend gehen und wie ein Held sterben wollte. Daraufhin beschloss ihre Mutter weiterzufliehen, und so schlugen sie sich zu einem Städtchen im hessischen Westerwald durch, dem Geburtsort ihrer Mutter. Das Leben dort war eintönig und zugleich äußerst merkwürdig, erzählte Ingeborg Bauer, denn die Bewohner des Städtchens lebten so, als würde es den Krieg nicht geben, obwohl viele Männer an die Front mussten und das Städtchen schon drei Luftangriffe erlebt hatte, nichts
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