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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Pavillons eng umschlungen sitzen, während es unaufhörlich schneite, und träumten von hochprozentigen Fußballspielen.
    Am nächsten Morgen zeigten fünf der Kinder typische Symptome von Lungenentzündung, die anderen befanden sich, einige mehr, andere weniger, in einem beklagenswerten Zustand, der ihnen ein Arbeiten unmöglich machte. Als ich dem Polizeichef befahl, die Kinder durch eigene Leute zu ersetzen, wollte er zunächst nicht, gab aber schließlich nach. Am Nachmittag liquidierte er acht Juden. Die Anzahl schien mir nicht der Rede wert, und das gab ich ihm zu verstehen. Es waren acht, erwiderte er, aber sie kamen mir vor wie achthundert. Ich sah ihn an und verstand.
    Ich sagte, wir würden warten, bis sich die polnischen Kinder erholt hätten. Das Pech, das uns verfolgte, schien förmlich an unseren Füßen zu kleben, sosehr wir uns auch bemühten, es abzuschütteln. Zwei polnische Kinder starben an Lungenentzündung, in einem Fieberdelirium, durch das nach Aussage des örtlichen Arztes Fußballspiele im Schneegestöber und weiße Löcher geisterten, in denen die Bälle und die Spieler verschwanden. Zum Zeichen der Anteilnahme schickte ich ihren Müttern etwas geräucherten Speck und einen Korb mit Kartoffeln und Möhren. Dann wartete ich. Ich ließ es schneien. Ich ließ es geschehen, dass mein Körper gefror. Eines Morgens fuhr ich zur Schlucht. Der Schnee dort war weich, sogar außerordentlich weich. Für Sekunden kam es mir so vor, als liefe ich über einen großen Teller Schlagsahne. Als ich an den Rand kam und nach unten schaute, stellte ich fest, dass die Natur ganze Arbeit geleistet hatte. Großartig. Ich konnte nicht die geringsten Spuren erkennen. Als das Wetter wieder besser wurde, ging die Brigade der betrunkenen Jungen erneut ans Werk.
    Ich redete ihnen gut zu. Ich sagte, sie würden ihre Sache prima machen und ihre Familien hätten jetzt mehr zu essen, bessere Chancen. Sie schauten mich an und sagten nichts. In ihren Mienen jedoch erkannte ich die Apathie und den Ekel, den das alles bei ihnen hervorrief. Ich wusste natürlich, dass sie lieber auf der Straße Fußball gespielt und getrunken hätten. Im Übrigen sprach man in der Bahnhofskneipe von nichts anderem als den herannahenden Russen. Warschau werde jeden Moment fallen, sagten einige. Sie flüsterten. Ich hörte es trotzdem und flüsterte meinerseits. Schlechte Aussichten.
    Eines Nachmittags sagte man mir, die betrunkenen Jungs hätten so viel getrunken, dass sie einer nach dem anderen in den Schnee gekippt seien. Ich hielt eine Standpauke. Sie schienen meine Worte nicht zu verstehen. Egal. Eines Tages fragte ich, wie viele griechische Juden noch übrig waren. Eine halbe Stunde später brachte mir einer meiner Sekretäre eine minutiöse Aufstellung: Die fünfhundert Juden, die im Zug aus dem Süden eingetroffen waren, die Anzahl derer, die die Reise nicht überlebt hatten, dann derer, die während des Aufenthalts in der alten Gerberei gestorben waren, darunter die, die auf unser Konto und auf das der betrunkenen Jungs gingen etc. Noch immer blieben mir über hundert Juden, und wir alle waren mit unseren Kräften am Ende, die Polizisten, die Freiwilligen und die polnischen Knirpse.
    Was tun? Die Arbeit war uns über den Kopf gewachsen. Manche Tätigkeiten, sinnierte ich, während ich den Horizont in Rosa und Güllegelb betrachtete, kann ein Mensch nicht über längere Zeiträume ertragen. Ich zumindest ertrug sie nicht. Ich gab mir Mühe, aber ich schaffte es nicht. Meine Polizisten auch nicht. Fünfzehn, na gut. Dreißig, meinetwegen. Aber schon bei fünfzig dreht sich einem der Magen um, dreht sich einem der Kopf, und Schlaflosigkeit und Alpträume setzen ein.
    Ich ließ die Arbeiten einstellen. Die Jungen spielten wieder Fußball auf der Straße. Die Polizisten kehrten zu ihren Aufgaben, die Landwirte auf ihre Höfe zurück. Niemand von außen interessierte sich für die Juden, weshalb ich sie zur Arbeit in die Kehrbrigaden steckte und zuließ, dass einige, höchstens zwanzig, bei der Feldarbeit eingesetzt wurden, und übertrug den Landwirten die Verantwortung für ihre Sicherheit.
    Eines Nachts holte man mich aus dem Bett, um mir einen dringenden Anruf zu melden. Am Apparat war ein Beamter von Obergalizien, mit dem ich nie zuvor gesprochen hatte. Er sagte, ich solle die Evakuierung aller Deutschen in meinem Gebiet vorbereiten.
    ›Es gibt keine Züge‹, sagte ich, ›wie soll ich alle evakuieren?‹
    ›Das ist Ihr Problem‹, sagte

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