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die beiden wochenlang gar nicht. Ihr Mann war, wie sie sagte, ein Heiliger. Er hatte ein paar Fehler, zum Beispiel war er Araber, Marokkaner, um genau zu sein, außerdem ein Faulpelz, aber im Großen und Ganzen ein lockerer Typ, der sich fast nie über irgendetwas aufregte, und wenn doch, dann wurde er nicht gewalttätig oder unverschämt wie andere Männer, sondern melancholisch, traurig, bekümmert über eine Welt, die sich plötzlich als zu groß und unverständlich für ihn erwies. Auf Pelletiers Frage, ob der Araber wisse, dass sie anschaffen gehe, sagte Vanessa ja, er wisse davon, aber es sei ihm egal, weil er an die Freiheit des Individuums glaube.
»Dann ist er dein Zuhälter«, sagte Pelletier.
Auf diese Behauptung erwiderte Vanessa »schon möglich«, genau betrachtet sei er ihr Zuhälter, aber ein ganz anderer Zuhälter als die anderen, die ihren Frauen in der Regel viel zu viel abverlangten. Der Marokkaner verlangte nichts von ihr. Es gab Zeiten, sagte Vanessa, in denen auch sie in eine Art von gewohnheitsmäßiger Faulheit und dauernder Ermattung verfiel, und dann wurde es für die drei finanziell eng. Während solcher Tage begnügte sich der Marokkaner mit dem, was da war, und versuchte, ohne viel Erfolg, irgendwelche Betrügereien aufzuziehen, mit denen sie sich halbwegs über Wasser hielten. Er war Muslim, und manchmal betete er und verneigte sich gen Mekka, aber er war zweifellos kein Muslim wie die anderen. Ihm zufolge erlaubte Allah alles oder fast alles. Einem Kind absichtlich etwas antun, das erlaubte er nicht. Ein Kind missbrauchen, ein Kind umbringen, ein Kind dem sicheren Tod ausliefern, das war verboten. Alles andere war relativ und letzten Endes erlaubt.
Einmal, erzählte Vanessa, waren sie nach Spanien gefahren. Sie, ihr Sohn und der Marokkaner. In Barcelona trafen sie sich mit dem jüngeren Bruder des Marokkaners, der auch mit einer Französin zusammenlebte, einem dicken großen Mädchen. Zu Vanessa sagte der Marokkaner, sie seien Musiker, aber in Wirklichkeit waren sie Bettler. Noch nie hatte sie den Marokkaner so glücklich gesehen wie in diesen Tagen. Ständig lachte er, erzählte Geschichten und wurde es nicht müde, kreuz und quer durch Barcelona zu laufen, bis er in die Außenbezirke oder in die Berge kam, von wo aus man die ganze Stadt und die Herrlichkeit des Mittelmeers sah. Noch nie habe sie bei einem Typen solche Lebensfreude erlebt, sagte Vanessa. Kinder, die so lebensfroh sind, wohl schon. Aber niemals Erwachsene.
Pelletiers Frage, ob Vanessas Sohn auch der Sohn des Marokkaners sei, verneinte sie, und etwas in ihrer Antwort verriet, dass sie die Frage als beleidigend oder verletzend empfand, als drücke sich darin Verachtung für ihren Sohn aus. Der sei weiß, fast blond, sagte sie, und war sechs, als sie den Marokkaner kennenlernte, wenn sie sich recht erinnere. In einer fürchterlichen Phase meines Lebens, sagte sie, ohne ins Detail zu gehen. Das Auftauchen des Marokkaners könne man auch nicht gerade eine glückliche Fügung nennen. Sie machte schon eine harte Zeit durch, als sie den Marokkaner kennen lernte, aber er war halb verhungert.
Pelletier mochte Vanessa, und sie trafen sich mehrmals. Sie war jung, groß, hatte eine griechische Nase und einen kühlen, arroganten Blick. Ihre Verachtung für Kultur, vor allem für die Buchkultur, hatte etwas Pennälerhaftes, etwas, worin sich Unschuld und Eleganz mischten, worin ein solches Maß an Reinheit lag, wie Pelletier fand, dass Vanessa es sich leisten konnte, jede erdenkliche Ungeheuerlichkeit von sich zu geben, ohne dass irgendjemand es ihr übelnehmen durfte. Eines Nachts, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, stand Pelletier auf, nackt wie er war, und suchte in seinen Büchern nach einem Roman von Archimboldi. Nach kurzem Zögern entschied er sich für Die Ledermaske, weil er dachte, Vanessa könne ihn mit etwas Glück als Horrorroman lesen, könne sich von der düsteren Seite des Buches angezogen fühlen. Zunächst war Vanessa ob des Geschenks erstaunt, dann gerührt, denn sie war es gewohnt, dass Freier ihr Kleider oder Schuhe oder Wäsche schenkten. Tatsächlich machte das Buch sie sehr glücklich, erst recht, als Pelletier ihr erklärte, wer Archimboldi war und welche Rolle der deutsche Schriftsteller in seinem Leben spielte.
»Das ist, als würdest du mir etwas von dir schenken«, sagte Vanessa. Diese Äußerung stürzte Pelletier in einige Verwirrung, denn einerseits stimmte das, war Archimboldi bereits
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