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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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ein Hahn, der, einmal geöffnet, sich nicht mehr schließen ließe.
    Und dann sah er, wie es im Meer vibrierte, als würde auch das Wasser schwitzen, das heißt, als würde das Wasser zu sieden beginnen. Ein kaum wahrnehmbares Sieden, das sich in Wogen ausbreitete, bis es sich zu Wellen aufbäumte, die am Strand verebbten. Und dann spürte Pelletier, wie ihm schwindlig wurde, und ein Summen von Bienen drang von draußen herein. Und als das Bienensummen verstummte, senkte sich eine noch schlimmere Stille über das Haus und seine direkte Umgebung. Pelletier schrie Nortons Namen und rief nach ihr, aber niemand kam auf sein Rufen herbei, als hätte die Stille seinen Hilferuf verschluckt. Und dann begann Pelletier zu weinen und sah, wie vom Grund des metallisierten Meeres die Überreste einer Statue emporstiegen. Eine unförmige, riesige Steinmasse, von Zeit und Meer zerfressen, an der man aber noch ganz deutlich eine Hand, das Handgelenk und ein Stück Unterarm erkennen konnte. Und die Statue stieg aus dem Meer, erhob sich über den Strand und war fürchterlich und zugleich wunderschön.
    Mehrere Tage herrschte bei Pelletier und Espinoza tiefe Zerknirschung wegen der Sache mit dem Taxifahrer, der in ihrem schlechten Gewissen seine Runden drehte wie ein Geist oder ein Stromgenerator.
    Espinoza fragte sich, ob sein Verhalten ihn nicht als das entlarvte, was er war, ein fremdenfeindlicher, gewaltbereiter Rechter. Was Pelletier dagegen zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er auf den Pakistani eingetreten hatte, als der schon am Boden lag, was man nur entschieden unfair nennen konnte. War das wirklich nötig? fragte er sich. Der Taxifahrer hatte seine verdiente Abreibung ja schon bekommen, kein Grund, die Gewalt auf die Spitze zu treiben.
    Eines Nachts führten beide ein langes Telefongespräch. Sie schilderten einander ihr Unbehagen. Dann gingen sie dazu über, einander zu trösten. Aber nach kurzer Zeit fingen sie wieder an, den Vorfall zu beklagen, so sehr sie auch in ihrem Innern überzeugt waren, dass im Grunde der Pakistani der Rechtsradikale und Frauenhasser, der Pakistani gewalttätig, der Pakistani intolerant war, dass der Pakistani sich danebenbenommen, dass er es darauf angelegt hatte, tausendundeinmal. Wenn in solchen Momenten, das ist wahr, der Taxifahrer vor ihnen aufgetaucht wäre, hätten sie ihn mit Sicherheit umgebracht.
    Für längere Zeit vergaßen sie ihre wöchentlichen Reisen nach London. Vergaßen Pritchard und die Gorgo. Vergaßen Archimboldi, dessen Ansehen hinter ihrem Rücken wuchs. Vergaßen ihre Arbeiten, die sie routiniert und lustlos herunterschrieben und die weniger ihre Arbeiten waren als die der Studenten oder Assistenten an ihren jeweiligen Instituten, die durch vage Aussichten auf Festanstellung oder Gehaltserhöhung für das Thema Archimboldi gewonnen worden waren.
    Während eines Kongresses in Berlin besuchten sie statt eines meisterlichen Vortrags von Pohl über Archimboldi und die Scham in der deutschen Nachkriegsliteratur ein Bordell, wo sie mit zwei sehr blonden, sehr großen, sehr langbeinigen Mädchen schliefen. Als sie gegen Mitternacht wieder auf der Straße standen, waren sie so zufrieden, dass sie zu singen begannen wie Kinder unter einem Platzregen. Das Erlebnis mit den Nutten, eine neue Erfahrung in ihrem Leben, wiederholten sie in verschiedenen europäischen Städten, und schließlich wurde es auch zu Hause Teil ihres Alltags. Andere wären womöglich mit Studentinnen ins Bett gegangen. Sie, die Angst davor hatten, sich zu verlieben, Angst, ihre Liebe zu Norton zu verlieren, entschieden sich für die Prostituierten.
    In Paris suchte Pelletier sie sich per Internet und traf damit fast immer ins Schwarze. In Madrid fand Espinoza sie in den Kontaktanzeigen von El País, so dass ihm das Blatt wenigstens in diesem Punkt praktische und verlässliche Dienste leistete, anders als die Kulturbeilage, in der fast nie etwas über Archimboldi stand und in der portugiesische Helden sich hervortaten, genau wie in der Kulturbeilage von ABC.
    »Ach«, klagte Espinoza einmal im Gespräch mit Pelletier, vielleicht weil er etwas Trost suchte, »wir in Spanien waren schon immer provinziell.«
    »Stimmt«, erwiderte Pelletier, nachdem er exakt zwei Sekunden über seine Antwort nachgedacht hatte.
    Auf ihrer Nuttenkreuzfahrt blieben sie übrigens auch nicht von Unwettern verschont.
    Pelletier lernte ein Mädchen namens Vanessa kennen. Sie war verheiratet und hatte einen Sohn. Manchmal sah sie

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