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zurückhaltend, was so viel bedeutete, dass der Turiner Professor ihnen weder eine einzige Frage stellte, noch sie zu einer einzigen Vertraulichkeit nötigte. Eines Abends sagte Pelletier zu Espinoza zu dessen und seiner eigenen nicht geringen Überraschung, Morini sei wie ein Geschenk. Ein Geschenk des Himmels an sie beide. Diese Behauptung hing etwas in der Luft, und hätte man sie begründen wollen, wäre man auf das sumpfige Gelände der Sentimentalität geraten, aber Espinoza, der ähnlich dachte, nur in anderen Worten, gab ihm sofort recht. Das Leben meinte es wieder gut mit ihnen. Sie reisten auf Kongresse. Sie genossen die Freuden der Gastronomie. Sie lasen und waren leicht. Alles, was um sie herum ins Stocken geraten war, was knirschte und rostete, kam wieder in Bewegung. Das Leben der anderen geriet wieder in ihren Blick, in Maßen allerdings. Die Gewissensbisse verschwanden wie Gelächter in einer Frühlingsnacht. Sie telefonierten wieder mit Norton.
Noch ganz gerührt von ihrem Wiedersehen, verabredeten sich Pelletier, Espinoza und Norton in einer Bar oder in der winzigen oder eher noch liliputanischen Cafeteria (zwei Tische und ein Tresen, an dem höchstens vier Gäste Schulter an Schulter Platz fanden) einer auch insgesamt kaum größeren, unorthodoxen Galerie, in der sowohl Gemälde ausgestellt als auch Bücher, gebrauchte Schuhe und gebrauchte Kleider verkauft wurden, eine Adresse in Hydepark Gate nahe der Botschaft der Niederlande, ein Land, das alle drei wegen seines Demokratieverständnisses zu bewundern vorgaben.
Hier bekam man Norton zufolge die besten Margaritas von ganz London, was Pelletier und Espinoza herzlich egal war, obwohl sie begeistert taten. Selbstverständlich waren sie die einzigen Gäste des Lokals, dessen einziger Angestellter oder Besitzer den Eindruck machte, um diese Zeit noch zu schlafen oder gerade aufgestanden zu sein, wodurch sein Erscheinungsbild in deutlichem Kontrast zu dem von Pelletier und Espinoza stand, die zwar schon um sieben Uhr morgens aufgestanden waren, ein Flugzeug genommen hatten und die Verspätung ihrer jeweiligen Flüge ertragen mussten, aber dennoch frisch und munter und willens waren, ihr Wochenende in London voll auszukosten.
Anfangs, das ist wahr, fiel ihnen das Reden schwer. Pelletier und Espinoza nutzten das Schweigen, um Norton zu betrachten: Sie fanden sie so hübsch und anziehend wie eh und je. Von Zeit zu Zeit wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Ameisenschritte des Galeriebesitzers gelenkt, der Kleider von einer Kleiderstange nahm und in ein Hinterzimmer trug, aus dem er mit identischen oder sehr ähnlichen Kleidern zurückkehrte, die er an dieselbe Stelle hängte, an der die anderen gehangen hatten.
Das gleiche Schweigen, das Pelletier und Espinoza nicht unangenehm war, wirkte auf Norton bedrückend und veranlasste sie, hastig und mit einem gewissen Furor von ihrer Lehrtätigkeit während des Zeitraums zu berichten, in dem sie sich nicht gesehen hatten. Das Thema war nicht sehr spannend und bald erschöpft, was Norton dazu brachte, alles zu erzählen, was sie gestern und vorgestern getan hatte, aber erneut ging ihr am Ende der Gesprächsstoff aus. Lächelnd wie die Eichhörnchen konzentrierten sich die drei für eine Weile auf ihre Margaritas, aber das Schweigen wurde immer unerträglicher, als würden in seinem Innern, im Interregnum des Schweigens, langsam die sich verletzenden Worte und die verletzenden Gedanken heranwachsen, ein Schauspiel und ein 'Tanz, die es nicht wert sind, mit Verdruss betrachtet zu werden. Darum hielt es Espinoza für angebracht, von einer Reise in die Schweiz zu erzählen, von einer Reise, an der Norton nicht teilgenommen hatte und deren Erzählung ihr vielleicht Freude machen könnte.
In seiner Erzählung ließ Espinoza weder die properen Städte noch die zum Studium einladenden Flüsse oder die frühjahrs in ein grünes Gewand gehüllten Berghänge unerwähnt. Dann sprach er von einer Zugreise nach Beendigung der Arbeit, zu der die drei Freunde dort zusammengekommen waren, einer Reise aufs Land, in eins der Dörfer auf halbem Weg zwischen Montreux und den Ausläufern der Berner Alpen, wo sie ein Taxi charterten, das sie über eine gewundene, aber sauber asphaltierte Straße zu einem Sanatorium beförderte, benannt nach einem Schweizer Politiker oder Finanzier des späten neunzehnten Jahrhunderts, Auguste Demarre, Klinik Auguste Demarre, ein unbescholtener Name, hinter dem sich eine gesittete und diskrete
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