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Anschließend schaute er seine elektronische Post durch, beantwortete einige Mails und legte sich mit dem Roman eines jungen, eher unbedeutenden, aber amüsanten französischen Autors und einer Literaturzeitschrift ins Bett. Nach kurzer Zeit schlief er ein und hatte folgenden höchst seltsamen Traum: Er war mit Norton verheiratet, und sie lebten in einem weitläufigen Haus an einer Steilküste, von der man auf einen Strand voller Menschen in Badekleidung herabsah, die sich sonnten oder schwammen, ohne sich jedoch weit vom Ufer zu entfernen.
Die Tage waren kurz. Von seinem Fenster aus sah er in fast ununterbrochener Folge Sonnenauf- und -untergänge. Hin und wieder schaute Norton bei ihm vorbei und sagte etwas, ohne aber je die Schwelle seines Zimmers zu überschreiten. Die Leute am Strand waren immer da. Manchmal hatte er den Eindruck, als würden sie nachts nicht nach Hause gehen oder als gingen sie alle zusammen fort, wenn es dunkel war, um in einer langen Prozession zurückzukehren, noch bevor es hell wurde. Andere Male konnte er, wenn er die Augen schloss, wie eine Möwe über den Strand fliegen und die Badegäste aus der Nähe betrachten. Alle Alter waren vertreten, wenngleich die Erwachsenen überwogen, Dreißigjährige, Vierzigjährige, Fünfzigjährige, und alle schienen auf banale Beschäftigungen konzentriert, zum Beispiel sich mit Sonnenmilch eincremen, ein Butterbrot essen, mit mehr Höflichkeit als Interesse den Erzählungen eines Freundes, Verwandten oder Handtuchnachbarn lauschen. Hin und wieder jedoch erhoben sich die Badegäste ganz unauffällig und betrachteten nicht länger als ein oder zwei Sekunden den Horizont, einen friedlichen, wolkenlosen, harmlos blauen Horizont.
Als Pelletier die Augen aufschlug, dachte er über das Verhalten der Badegäste nach. Es war offensichtlich, dass sie auf etwas warteten, aber es sah nicht so aus, als ob ihr Leben davon abhängen würde. Nur dass sie in regelmäßigen Abständen eine aufmerksamere Haltung annahmen, ein oder zwei Sekunden lang den Horizont fixierten und dann wieder in die Zeit des Strandes eintauchten, ohne einen Bruch oder ein Zögern erkennen zu lassen. Ganz vertieft in die Betrachtung der Badegäste, vergaß Pelletier Liz Norton, vielleicht im Vertrauen auf ihre Anwesenheit im Haus, eine Anwesenheit, von der die Geräusche zeugten, die von Zeit zu Zeit aus dem Innern drangen, aus den Zimmern, die keine Fenster hatten oder deren Fenster aufs Land, auf die Berge, nicht aufs Meer und den überfüllten Strand hinausgingen. Er schlief, wie er herausfand, als der Traum schon weit fortgeschritten war, auf einem Stuhl neben seinem Schreibtisch und dem Fenster. Und bestimmt schlief er nur wenige Stunden, er versuchte sogar, wenn die Sonne unterging, so lange wie möglich wach zu bleiben und den Strand, jetzt ein Stück schwarzer Leinwand oder der Schacht eines Brunnens, nicht aus den Augen zu lassen, um vielleicht irgendein Licht, den Umriss einer Laterne, die flackernden Flammen eines Lagerfeuers zu entdecken. Er verlor jegliches Zeitgefühl. Vage erinnerte er sich an eine verworrene Szene, die ihn gleichermaßen beschämte und erregte. Die Papiere auf dem Schreibtisch waren Handschriften von Archimboldi, als solche hatte er sie zumindest gekauft, obwohl ihm bei der Durchsicht auffiel, dass sie auf Französisch, nicht auf Deutsch geschrieben waren. Neben ihm stand ein Telefon, das niemals klingelte. Die Tage wurden immer heißer.
Eines Tages um die Mittagszeit sah er, wie die Badegäste ihre Beschäftigung unterbrachen und wie gewöhnlich alle gleichzeitig zum Horizont schauten. Nichts geschah. Aber dann machten die Badegäste zum ersten Mal kehrt und verließen den Strand. Einige schlichen auf einem Feldweg davon, der zwischen zwei Hügeln hindurchführte, andere liefen querfeldein und hielten sich dabei an Sträuchern und Felsbrocken fest. Einige wenige verschwanden in Richtung der Schlucht, und obwohl Pelletier sie nicht sah, wusste er, dass sie eine langsame Kletterpartie begannen. Am Strand blieb nur ein Bündel zurück, ein dunkler Balg, der aus einer gelben Grube ragte. Einen Augenblick lang dachte Pelletier darüber nach, ob es angebracht wäre, hinunter zum Strand zu laufen und dann mit der in diesem Fall gebotenen Umsicht das Bündel am Grund des Loches zu vergraben. Aber schon bei dem Gedanken an den langen Weg, den er hätte zurücklegen müssen, um zum Strand zu gelangen, brach ihm der Schweiß aus, und er schwitzte immer stärker, wie
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