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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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ein Teil von ihm, gehörte ihm in dem Maße, wie er, zusammen mit einigen anderen, eine neue Lesart des Deutschen begründet hatte, eine Lesart, die dauern sollte, eine, die so ehrgeizig war wie Archimboldis Schreiben selbst und sein Werk auf lange Zeit begleiten würde, bis die neue Lesart - oder (aber das war für ihn unvorstellbar) bis Archimboldis Schreibweise - sich erschöpfte, die Fähigkeit verlöre, in Archimboldis Werken Gefühle und Erkenntnisse freizusetzen; andererseits stimmte es nicht, denn manchmal, vor allem nachdem er und Espinoza ihre Flüge nach London und die Besuche bei Norton eingestellt hatten, war das Werk von Archimboldi, also seine Romane und Erzählungen, eine formlose, geheimnisvolle sprachliche Masse, die nichts mit ihm zu tun hatte, etwas, das überdies auf kapriziöse Weise auftauchte und verschwand, im wörtlichen Sinne ein Prätext, eine falsche Tür, der Deckname eines Mörders, eine mit Fruchtwasser gefüllte Hotelbadewanne, in der er, Jean-Claude Pelletier, am Ende Selbstmord begehen würde, warum nicht gar, grundlos, kopflos, und warum auch nicht.
    Wie nicht anders erwartet, sagte ihm Vanessa nie, ob ihr das Buch gefallen habe. Eines Morgens begleitete er sie nach Hause. Sie wohnte in einem Arbeiterviertel, in dem es nicht eben wenige Immigranten gab. Bei ihrer Ankunft saß ihr Sohn vor dem Fernseher, und Vanessa schimpfte mit ihm, weil er nicht in die Schule gegangen war. Der Junge sagte, er habe Bauchschmerzen, und sofort ging Vanessa ihm einen Tee kochen. Pelletier beobachtete sie beim Herumhantieren in der Küche. Die Energie, die sie an den Tag legte, war maßlos und verpuffte zu neunzig Prozent in nutzlosen Bewegungen. In der Wohnung herrschte ein heilloses Durcheinander, das er zum Teil auf den Jungen, zum Teil auf den Marokkaner schob, für das hauptsächlich aber Vanessa verantwortlich war.
    Angezogen durch den Lärm aus der Küche (auf den Boden fallende Löffel, ein zerbrochener Becher, laute Fragen ins Leere, wo denn zum Teufel der Tee geblieben sei), erschien kurz darauf der Marokkaner. Ohne dass jemand sie vorgestellt hatte, reichten sie einander die Hand. Der Marokkaner war klein und schmächtig. Schon bald würde der Junge größer und kräftiger sein als er. Er trug einen buschigen Schnurrbart, und die Haare gingen ihm aus. Nachdem er ganz verschlafen Pelletier begrüßt hatte, setzte er sich aufs Sofa und schaute sich zusammen mit dem Jungen Zeichentrickfilme an. Als Vanessa aus der Küche kam, sagte Pelletier, dass er los müsse.
    »Es gibt nicht das geringste Problem«, sagte sie.
    In ihrer Antwort schien eine gewisse Aggressivität mitzuschwingen, aber dann fiel ihm ein, dass das Vanessas Art war. Der Junge nippte an seinem Tee und sagte, es fehle Zucker, und rührte den dampfenden Becher nicht mehr an, in dem einige Blätter trieben, die Pelletier nicht sehr vertrauenerweckend vorkamen.
    An diesem Vormittag in der Universität dachte er in jeder freien Minute an Vanessa. Bei ihrem nächsten Treffen schliefen sie nicht miteinander, obwohl er sie bezahlte, als hätten sie es getan, stattdessen unterhielten sie sich stundenlang. Bevor ihm die Augen zufielen, war Pelletier zu einigen Erkenntnissen gelangt: Vanessa war seelisch und körperlich bestens für ein Leben im Mittelalter gerüstet. Der Begriff »modernes Leben« besaß für sie keinen Sinn. Sie vertraute mehr ihren eigenen Augen als den Massenmedien. Sie war misstrauisch und mutig, obwohl ihr Mut sie paradoxerweise dazu verleitete, anderen zu vertrauen, etwa einem Kellner, einem Schaffner, einer in Not geratenen Kollegin, die sie fast immer betrogen oder ihr Vertrauen missbrauchten. Diese Vertrauensbrüche brachten sie außer sich und konnten sie zu unvorstellbarer Gewalttätigkeit reizen. Sie war außerdem nachtragend und brüstete sich damit, offen ihre Meinung zu sagen. Sie hielt sich für eine unabhängige Frau und wusste auf alles eine Antwort. Was sie nicht verstand, interessierte sie nicht. Sie dachte nicht an die Zukunft, nicht einmal an die Zukunft ihres Sohnes, sondern an die Gegenwart, eine immerwährende Gegenwart. Sie war hübsch, fand sich aber nicht hübsch. Die Mehrheit ihrer Freunde waren maghrebinische Einwanderer, sie aber, die nie so weit ging, Le Pen zu wählen, sah in der Einwanderung eine Gefahr für Frankreich.
    »Nutten«, sagte Espinoza an dem Abend, als Pelletier ihm von Vanessa erzählte, »soll man flachlegen, nicht auf die Couch legen.«
    Anders als sein Freund merkte sich

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