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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Seiten um?«
    »Ganz einfach«, sagte der Schweizer, »durch ein mit dem Mund zu bedienendes Stäbchen aus Stroh oder Metall, das selbstverständlich zur Leseapparatur dazugehörte, die sicher die Form eines umschnallbaren Tabletts besaß. Außerdem muss man sich vor Augen halten, dass Henri, ein professioneller Erfinder, also zur Kategorie unparteiischer Menschen gehörig, den Roman eines Freundes liest, was eine enorme Verantwortung mit sich bringt, denn dieser Freund wird wissen wollen, ob ihm der Roman gefällt, und wenn er ihm gefällt, ob er ihm sehr gefällt, und wenn er ihm sehr gefällt, wird er wissen wollen, ob Henri seinen Roman für ein Meisterwerk hält, und wenn Henri einräumt, dass er ihn für ein Meisterwerk hält, wird er wissen wollen, ob er ein Jahrhundertwerk der französischen Literatur geschrieben hat, und so immer fort, bis dem armen Henri der Geduldsfaden reißt, der sicher auch Besseres zu tun hat, als sich diese lächerliche Apparatur vor die Brust zu schnallen und damit im Garten auf und ab zu laufen.«
    »Jedenfalls«, sagte die Pressechefin, »verrät uns der Satz, dass Henri nicht gefällt, was er liest. Er ist besorgt, fürchtet, dass das Buch seines Freundes keinen Höhenflug erlebt, weigert sich aber, das Offensichtliche anzuerkennen: Dass sein Freund Mist geschrieben hat.«
    »Und woran erkennst du das?«, wollte die Lektorin wissen.
    »An der Art, wie Rosny ihn uns schildert. Er faltet die Hände auf dem Rücken: Besorgnis, Konzentration. Er liest im Stehen und läuft ständig auf und ab: Weigerung, sich mit den Tatsachen abzufinden, Nervosität.«
    »Aber die Tatsache, dass er den Leseapparat benutzt hat«, sagte die Buchgestalterin, »rettet ihn.«
    Dann sprachen sie über den Satz von Daudet, der Bubis zufolge keine Stilblüte, sondern ein Beleg für den Humor des Franzosen darstelle, und über den Günstling des Glücks von Octave Feuillet (Saint-La 1821 - Paris 1890), zu seiner Zeit ein Erfolgsautor und erklärter Feind des realistischen und naturalistischen Romans, dessen Werke dem entsetzlichsten Vergessen, dem fürchterlichsten Vergessen, dem gerechtesten Vergessen anheimgefallen seien und dessen Stilblüte »Die Leiche wartete still auf ihre Autopsie« in gewisser Weise das Schicksal seiner eigenen Bücher vorzeichne, sagte der Schweizer.
    »Hat dieser Feuillet irgendetwas mit dem französischen Wort Feuilleton zu tun?«, fragte die alte Frau Gottlieb. »Ich meine mich zu erinnern, dass der Begriff sowohl die Literaturbeilage einer Zeitung wie auch den darin in Fortsetzung veröffentlichten Roman bezeichnet.«
    »Wahrscheinlich ist es ein und dasselbe«, sagte der Schweizer sibyllinisch.
    »Bestimmt geht das Wort Feuilleton auf Feuillet, den Dauphin des Fortsetzungsromans, zurück«, sagte Bubis und lehnte sich weit aus einem Fenster, das er gar nicht kannte.
    »Obwohl mir ja der Satz von Auback am besten gefällt«, meinte die Lektorin.
    »Der Mann ist sicher Deutscher«, sagte die Sekretärin.
    »Ja, der Satz ist gut: ›Mit einem Auge las, mit dem anderen schrieb er‹ wäre auch in einer Goethe-Biographie gut aufgehoben«, sagte der Schweizer.
    »Goethe lass aus dem Spiel«, sagte die Pressechefin.
    »Dieser Auback könnte genauso gut Franzose sein«, sagte die Lektorin, die lange in Frankreich gelebt hatte. »Oder Schweizer«, sagte die Baroness.
    »Und was haltet ihr von ›Er hatte kalte Hände wie eine Schlange‹?«fragte die Buchhalterin.
    »Ich ziehe den von Henri Zvedan vor: ›Nachdem sie ihn einen Kopf kürzer gemacht hatten, begruben sie ihn bei lebendigem Leibe«‹, sagte der Schweizer.
    »Das könnte sogar funktionieren«, sagte die Lektorin. »Jemand wird einen Kopf kürzer gemacht. Die Täter denken, ihr Opfer sei tot, und sie müssen die Leiche so schnell wie möglich verschwinden lassen. Sie schaufeln ein Grab, werfen den leblosen Körper hinein und schütten ihn mit Erde zu. Aber das Opfer ist nicht tot. Jemanden einen Kopf kürzer machen kann auch heißen, dass man ihm oder ihr die Kehle durchschneidet. Nehmen wir an, es sei ein Mann. Sie versuchen also, ihm die Kehle durchzuschneiden. Das Blut fließt in Strömen. Das Opfer verliert das Bewusstsein. Die Täter halten den Mann für tot. Nach einiger Zeit kommt das Opfer wieder zu sich. Die Erde hat die Blutung gestillt. Nun ist er lebendig begraben. Aus die Maus. Das war's«, sagte die Lektorin. »Wäre das glaubwürdig?«
    »Nein, wäre es nicht«, sagte die Pressechefin.
    »Stimmt, es klingt

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