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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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gerade rechtzeitig für den Zug nach Venedig. Am Nachmittag traf sie Archimboldi in einer Trattoria in Cannaregio und übergab ihm einen Scheck, der den Vorschuss für seinen letzten Roman und seinen Anteil am Verkauf seiner früheren Bücher bündelte.
    Der Betrag war beachtlich, doch Archimboldi steckte ihn ein und sagte kein Wort. Dann sprachen sie miteinander. Sie aßen venezianische Sardinen mit Griesgnocchi und tranken dazu eine Flasche Weißwein. Dann standen sie auf und liefen durch ein ganz anderes Venedig als das winterlich verschneite Venedig, das sie bei ihrer letzten Begegnung erleben durften. Die Baroness gestand ihm, sie sei seither nicht mehr in der Stadt gewesen.
    »Ich bin auch erst seit kurzem da«, sagte Archimboldi.
    Sie wirkten wie alte Freunde, die nicht vieler Worte bedurften. Der milde Herbst hatte eben begonnen, und gegen die Kühle reichte ein leichter Pullover. Die Baroness wollte wissen, ob Archimboldi noch in Cannaregio wohnte. So ist es, sagte Archimboldi, aber nicht mehr in der Calle Turlona.
    Er spielte mit dem Gedanken, in den Süden zu ziehen.
    Jahrelang bestand Archimboldis Wohnung, alles, was er besaß, aus seinem Koffer, welcher Kleidung, fünfhundert Blatt Papier und die zwei oder drei Bücher enthielt, die er gerade las, sowie der Schreibmaschine, die Bubis ihm geschenkt hatte. Den Koffer trug er in der rechten Hand. Die Schreibmaschine in der linken Hand. Wenn ein Kleidungsstück verschlissen war, warf er es weg. Wenn er ein Buch gelesen hatte, verschenkte er es oder ließ es auf irgendeinem Tisch liegen. Lange weigerte er sich, einen Computer anzuschaffen. Ab und zu betrat er Geschäfte, in denen Computer verkauft wurden, und fragte die Verkäufer, wie sie funktionierten. Aber immer machte er in letzter Minute einen Rückzieher, wie ein misstrauischer Bauer mit seinem Ersparten. Bis die tragbaren Computer aufkamen. Da kaufte er sich einen, und nach kurzer Zeit beherrschte er ihn spielend. Als man den tragbaren Computern Modems einpflanzte, tauschte Archimboldi sein altes Gerät gegen ein neues und verbrachte, eingewählt ins Internet, manchmal Stunden mit der Suche nach seltsamen Nachrichten, Namen, an die sich niemand mehr erinnerte, und vergessenen Ereignissen. Was tat er mit der Schreibmaschine, die Bubis ihm geschenkt hatte? Er trug sie in eine Schlucht und schleuderte sie in die Felsen.
    Als er eines Tages wieder einmal im Internet unterwegs war, stieß er auf eine Nachricht in Zusammenhang mit einem gewissen Hermes Popescu, den er unschwer als den Sekretär von General Entrescu identifizierte, dessen gekreuzigten Leichnam zu betrachten er 1944 die Gelegenheit gehabt hatte, als sich das deutsche Heer auf dem Rückzug von der rumänischen Grenze befand. In einer US-amerikanischen Suchmaschine entdeckte er seine Biographie. Popescu war nach Kriegsende nach Frankreich gegangen. In Paris schloss er sich rumänischen Exilkreisen an, insbesondere denen der Intellektuellen, die aus verschiedenen Gründen am linken Seine-Ufer wohnten. Nach und nach jedoch kam Popescu zu der Einsicht, dass das alles, wie er sich ausdrückte, hochgradig absurd war. Die Rumänen waren glühende Antikommunisten, schrieben auf Rumänisch und steuerten auf eine menschliche Katastrophe zu, die nur durch den einen oder anderen religiösen oder sexuellen Lichtstrahl etwas aufgehellt wurde.
    Schon bald fand Popescu eine praktische Lösung. Durch geschickte Winkelzüge (von Absurdität bestimmte Winkelzüge) mischte er sich in turbulente Geschäfte ein, in denen die Unterwelt, Spionage, die Kirche und Arbeitserlaubnisse eine Rolle spielten. Geld floss ihm zu. Unmengen Geld. Aber er arbeitete weiter. Er befehligte Arbeitsbrigaden illegal im Land lebender Rumänen. Später kamen Ungarn und Tschechen hinzu. Dann Maghrebiner. In einen Pelzmantel gehüllt, wie ein Gespenst, besuchte er sie manchmal in ihren Kellerlöchern. Vom Geruch der Schwarzen wurde ihm schwindlig, aber er mochte ihn. Diese Schwachköpfe sind echte Menschen, pflegte er zu sagen. Insgeheim hoffte er, der Geruch werde seinen Mantel, seinen Satinschal imprägnieren. Er lächelte wie ein Vater. Weinte sogar manchmal. Mit den Gangstern sprang er anders um. Nüchternheit war sein Markenzeichen. Kein Ring, keine Kette, nichts Glänzendes, nicht das geringste Fitzelchen Gold.
    Er machte Geld, dann noch mehr Geld. Die rumänischen Intellektuellen kamen zu ihm, um sich Geld zu leihen, sie hatten Ausgaben, Milch für die Kinder, die Miete, eine

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