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unglaubwürdig«, gab die Lektorin zu.
»So unglaubwürdig nun auch wieder nicht«, sagte Marianne Gottlieb, »die Geschichte lehrt noch ganz andere Dinge.«
»Ach was, es klingt unglaubwürdig«, sagte die Lektorin. »Sie müssen mir nicht den Rücken stärken, liebe Marianne.«
»Ich finde, völlig unglaubwürdig klingt es nicht«, sagte Archimboldi, der die ganze Zeit gelacht hatte, »obwohl mir ein anderer Satz besser gefällt.«
»Und welcher wäre das?«, fragte Bubis. »Der von Balzac«, sagte Archimboldi.
»Ah, der ist phantastisch«, sagte die Lektorin. Der Schweizer zitierte:
»›Ich blicke nicht mehr durch, sagte die arme Blinde.«‹
Das Manuskript, das Bubis im Anschluss an Erbschaft erhielt, war Der Heilige Thomas, die apokryphe Biographie eines Biographen, dessen biographischer Gegenstand ein Großschriftsteller des Nazi-Regimes war, in dem einige Kritiker Ernst Jünger erkennen wollten, obwohl es sich offensichtlich nicht um Jünger, sondern um eine sozusagen fiktive Person handelte. Damals lebte er noch in Venedig, wie Bubis sicher wusste, und arbeitete wahrscheinlich auch noch als Gärtner, obwohl die Vorschüsse und Schecks, die sein Verleger ihm von Zeit zu Zeit schickte, es ihm erlaubt hätten, sich ganz auf die Literatur zu konzentrieren.
Das nächste Manuskript jedoch kam von Ikaria, einer griechischen Insel, auf der Archimboldi sich ein Häuschen inmitten felsiger Hügel gemietet hatte, in deren Rücken gleich das Meer lag. Eine Landschaft wie geschaffen für Sisyphos, dachte Bubis, und das schrieb er ihm auch in seinem Brief, in dem er wie üblich den Eingang des Textes und seine umgehende Lektüre bestätigte und ihm drei Zahlungsweisen vorschlug, unter denen sich Archimboldi die ihm genehmste aussuchen sollte.
Archimboldis Antwort überraschte Bubis. Er schrieb, Sisyphos sei, als er tot war, mit Hilfe einer rechtlichen Schliche dem Totenreich entronnen. Noch bevor Zeus Thanatos befreite, bat Sisyphos, der wusste, die erste Amtshandlung des Todes würde darin bestehen, ihn holen zu kommen, seine Frau, das angestammte Bestattungsritual nicht zu vollziehen. Als darum Sisyphos in der Unterwelt eintraf, machte Hades ihm Vorhaltungen, und wie zu erwarten, erhoben die Mächte des Schattenreichs ihr Geschrei zum Himmels- oder Unterweltgewölbe, rauften sich die Haare und waren beleidigt. Sisyphos erklärte jedoch, die Schuld läge nicht bei ihm, sondern bei seiner Frau, und bat um eine, sagen wir, richterliche Erlaubnis, zur Erdoberfläche zurückkehren und sich rächen zu dürfen.
Hades überlegte: Sisyphos' Vorschlag klang vernünftig, und so wurde er gegen Kaution für eine Frist von drei oder vier Tagen auf freien Fuß gesetzt, genug, um gerechte Rache zu nehmen und, wenn auch ein wenig spät, die gebotenen Bestattungsrituale in die Wege zu leiten. Selbstverständlich ließ sich Sisyphos nicht lange bitten, kehrte auf die Erde zurück und lebte glücklich bis ins hohe Alter, schließlich war er nicht umsonst der listigste Mensch des Globus; erst als sein Körper ihm den Dienst versagte, kehrte er ins Totenreich zurück.
Manche meinen, die Strafe mit dem Felsen habe nur den Zweck verfolgt, Sisyphos zu beschäftigen und seinen Verstand daran zu hindern, neue Schlichen zu ersinnen. Aber eines Tages, wenn niemand damit rechnet, wird Sisyphos etwas einfallen, und dann steigt er wieder zur Erde hinauf, schloss Archimboldi seinen Brief.
Der Roman, den er Bubis von Ikaria aus schickte, hieß Die Blinde. Er handelte, wie zu erwarten, von einer Blinden, die aber nicht wusste, dass sie blind war, und von Detektiven, die das zweite Gesicht besaßen, aber nicht wussten, dass sie es besaßen. Schon bald trafen von den Inseln weitere Bücher in Hamburg ein. Das Schwarze Meer, ein Theaterstück oder Roman in dramatisierter Rede, in dem eine Stunde vor Sonnenaufgang das Schwarze Meer mit dem Atlantischen Ozean debattiert. Lethaea , sein Roman mit der ungeschminktesten sexuellen Thematik, der die Geschichte von Lethaea ins Deutschland des Dritten Reichs verlegt, Lethaea, die sich für schöner hielt als die Göttinnen und schließlich zusammen mit Olenus, ihrem Mann, in Stein verwandelt wurde (dieser Roman wurde der Pornographie bezichtigt und nach einem gewonnenen Prozess das erste Buch von Archimboldi, das fünf Auflagen erreichte). Der Losverkäufer, das Leben eines deutschen Krüppels, der in New York Lotterielose verkaufte. Und Der Vater, in dem ein Sohn die Aktivitäten seines Vaters als
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