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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Staroperation für die Frau Gemahlin. Popescu hörte zu, als würde er schlafen oder träumen. Er gewährte alles, unter der einen Bedingung, dass sie ihre Gehässigkeiten nicht länger auf Rumänisch, sondern auf Französisch abfassten. Eines Tages erschien bei ihm ein kriegsversehrter Hauptmann des vierten rumänischen Armeekorps, das unter Entrescus Befehl gestanden hatte.
    Bei seinem Eintreten sprang Popescu wie ein Kind von Sessel zu Sessel. Er stieg auf den Tisch und tanzte einen karpatischen Volkstanz. Er tat so, als pinkelte er in eine Ecke, und ließ ein paar Tropfen fahren. Fehlte nur, dass er sich auf dem Teppich wälzte! Der kriegsversehrte Hauptmann versuchte, es ihm gleichzutun, aber seine körperliche Behinderung (ihm fehlten ein Arm und ein Bein) verwehrten es ihm.
    »Ach, die Nächte von Bukarest«, sagte Popescu. »Ach, die Morgenstunden von Pitesti. Ach, die Himmel über dem rückeroberten Cluj. Ach, die leeren Büros von Turnu Severin. Ach, die Melkerinnen von Bacau. Ach, die Witwen von Constanza.«
    Anschließend zogen sie Arm in Arm in Popescus Wohnung in der Rue de Verneuil, ganz in der Nähe der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, wo sie weiterredeten und weitertranken und wo der kriegsversehrte Hauptmann Gelegenheit hatte, ihm in allen Einzelheiten sein Leben zu schildern, ein heldenhaftes, jawohl, aber von Widrigkeiten verfolgtes Leben. Bis Popescu eine Träne zerdrückte und ihn mit der Frage unterbrach, ob er auch Zeuge von Entrescus Kreuzigung gewesen sei.
    »Ich war dort«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann, »wir flohen vor den russischen Panzern, hatten die gesamte Artillerie verloren, und es fehlte an Munition.«
    »Also Munition fehlte«, sagte Popescu, »und Sie waren dabei?«
    »Ich war dabei«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann, »kämpfte auf dem heiligen Boden des Vaterlands, an der Spitze einer Handvoll zerlumpter Burschen, nachdem das vierte Armeekorps auf die Größe einer Division zusammengeschmolzen war und es weder eine Intendantur noch Aufklärer, Ärzte, Krankenschwestern oder irgendetwas gab, das an einen zivilisierten Krieg erinnerte, nur todmüde Männer und ein Tag für Tag wachsendes Kontingent von Verrückten.«
    »Also ein Kontingent von Verrückten«, sagte Popescu, »und Sie waren dabei?«
    »Ich war dabei«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann, »und alle folgten wir unserem General Entrescu, hofften alle auf eine Idee, eine Rede, einen Berg, eine schimmernde Höhle, einen Blitz aus wolkenlosem blauem Himmel, einen improvisierten Blitz, ein barmherziges Wort.«
    »Also ein barmherziges Wort«, sagte Popescu, »und Sie waren dabei und warteten auf ein barmherziges Wort?«
    »Wie auf Mairegen«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann, »ich wartete, die Obersten warteten, die Generäle, die noch dabei waren, warteten und auch die milchbärtigen Leutnants warteten darauf, und die Irren, die Feldwebel und die Irren, Leute, die in der nächsten halben Stunde desertieren würden, Leute, die bereits ihr Gewehr auf dem staubigen Boden hinter sich herzogen, Leute, die nicht genau wussten, ob sie nach Osten oder Westen, Norden oder Süden liefen, und Leute, die in gutem Rumänisch postume Gedichte schrieben, Briefe an das Mütterchen, tränennasse Nachrichten an die Verlobte, die sie niemals wiedersehen würden.«
    »Also Briefe und Nachrichten, Nachrichten und Briefe«, sagte Popescu, »und meldete sich auch Ihre lyrische Ader?«
    »Nein, ich hatte weder Papier noch Feder«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann, »ich hatte Verpflichtungen, hatte Männer zu befehligen und musste etwas tun, wenn ich auch nicht genau wusste, was. Das vierte Armeekorps hatte bei einem Landgut haltgemacht. Weniger einem Landgut als einem Schloss. Ich musste die gesunden Soldaten in den Viehställen einquartieren, die kranken in den Pferdeställen. Die Irren brachte ich in der Scheune unter und traf Vorkehrungen, sie in Brand zu stecken, für den Fall, dass der Irrsinn der Irren noch den Irrsinn übersteigen sollte. Ich musste mit meinem Oberst sprechen und ihn davon in Kenntnis setzen, dass es auf diesem großen Herrensitz keinerlei Nahrungsmittel gab. Und mein Oberst musste mit meinem General sprechen, und mein General, der krank war, musste in den zweiten Stock des Schlosses steigen, um meinem General Entrescu mitzuteilen, dass die Situation ausweglos war, dass es schon nach Verwesung roch, dass es das Beste wäre, das Lager abzubrechen und in Eilmärschen weiter nach Westen zu

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