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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Hauptmann einen Schreck und er schaute zur Tür, aber im Zimmer waren eindeutig nur sie beide.
    »Ich lege eine Platte auf«, sagte Popescu, »wie wär's mit etwas von Gluck?«
    »Den Musiker kenne ich nicht«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann.
    »Etwas von Bach?«
    »Ja, Bach mag ich«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann mit halb geschlossenen Augen.
    Als Popescu sich wieder zu ihm setzte, reichte er ihm ein Glas Cognac Napoléon.
    »Gibt es etwas, das Sie beschäftigt, Hauptmann, gibt es etwas, das Sie stört, möchten Sie mir eine Geschichte erzählen, kann ich irgendetwas für Sie tun?«
    Der Hauptmann öffnete leicht die Lippen, schloss sie aber wieder und schüttelte den Kopf.
    »Ich brauche nichts.«
    »Nichts, nichts, nichts«, wiederholte Popescu und rutschte in seinem Sessel herum.
    »Die Knochen, die Knochen «, murmelte der kriegsversehrte Hauptmann, »warum hat uns General Entrescu in einem Schloss haltmachen lassen, auf dessen Gelände es von Knochen nur so wimmelt?«
    Schweigen.
    »Vielleicht weil er wusste, dass er sterben würde, und das in seinem Haus tun wollte«, sagte Popescu.
    »Wo wir auch gruben, stießen wir auf Knochen«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann. »Die Umgebung des Schlosses war durchsetzt mit menschlichen Knochen. Es war nicht möglich, einen Schützengraben auszuheben, ohne auf Fingerknochen, einen Armknochen oder einen Schädel zu stoßen. Was für eine Gegend war das? Was war dort passiert? Und warum hatte man von dort den Eindruck, das Kreuz der Irren flattere wie eine Fahne?«
    »Sicher eine optische Täuschung«, sagte Popescu.
    »Ich weiß nicht«, sagte der kriegsversehrte Hauptmann. »Ich bin müde.«
    »Sie sind in der Tat sehr müde, Hauptmann, schließen Sie die Augen«, sagte Popescu, aber der Hauptmann hatte die Augen schon seit geraumer Zeit geschlossen.
    »Ich bin müde«, wiederholte er.
    »Sie sind hier bei Freunden«, sagte Popescu. »Es war ein langer Weg. «
    Popescu nickte schweigend.
    Die Tür ging auf und herein kamen zwei Ungarn.
    Popescu sah sie nicht einmal an. Mit drei Fingern, Daumen, Zeige und Mittelfinger, dicht vor Mund und Nase, begleitete er den Takt der Bachschen Musik. Die Ungarn blickten schweigend auf die Szene und warteten auf ein Zeichen. Der Hauptmann schlief ein. Als die Platte zu Ende gespielt war, erhob sich Popescu und näherte sich auf Zehenspitzen dem Hauptmann.
    »Türkenbastard, Hurensohn«, sagte er auf Rumänisch, wobei seine Stimme nicht aggressiv, eher nachdenklich klang.
    Mit einer Handbewegung winkte er die Ungarn heran. Einer auf jeder Seite hoben sie den kriegsversehrten Hauptmann hoch und schleppten ihn zur Tür. Der Hauptmann begann lauter zu schnarchen, und über dem Teppich löste sich sein künstliches Bein. Die Ungarn ließen es auf den Boden fallen und versuchten vergeblich, es erneut zu befestigen.
    »Was seid ihr ungeschickt«, sagte Popescu, »lasst mich das machen.«
    Als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, hatte er das Bein in wenigen Sekunden richtig angebracht und überprüfte dann noch großspurig den künstlichen Arm.
    »Seht zu, dass er unterwegs nichts verliert«, sagte er.
    »Sie können ganz beruhigt sein, Chef«, sagte einer der Ungarn.
    »Sollen wir ihn zum üblichen Ort bringen?«
    »Nein«, sagte Popescu, »den werft besser in die Seine. Und sorgt dafür, dass er da nicht mehr rauskommt.«
    »Geht klar, Chef«, sagte der Ungar, der vorher schon gesprochen hatte.
    In diesem Moment öffnete der kriegsversehrte Hauptmann das rechte Auge und sagte mit heiserer Stimme:
    »Die Knochen, das Kreuz, die Knochen.«
    Der andere Ungar schloss ihm sanft das Auge.
    »Keine Sorge«, lachte Popescu, »der schläft.«
    Viele Jahre später, sein Vermögen war mittlerweile mehr als ansehnlich, verliebte sich Popescu in eine Schauspielerin aus Mittelamerika namens Asunción Reyes, eine außergewöhnlich schöne Frau, und heiratete sie. Die Karriere von Asunción Reyes im europäischen (sowohl französischen wie italienischen und spanischen) Kino war kurz, aber die Feste, die sie gab und selbst besuchte, waren buchstäblich nicht zu zählen. Eines Tages bat Asunción ihn, er solle, wo er doch so reich sei, etwas fürs Vaterland tun. Popescu dachte erst, sie spräche von Rumänien, bis er merkte, dass sie Honduras meinte. Also reiste er noch im gleichen Jahr an Weihnachten mit seiner Frau nach Tegucigalpa - eine Stadt, fand Popescu, Bewunderer des Bizarren und der Kontraste, die in drei erzverschiedene

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