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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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in Wirklichkeit jedoch funktionierte der Speisesaal als Selbstbedienungsbuffet, und jeder Schriftsteller lud sich auf sein Tablett, worauf er Appetit hatte. Wie gefällt Ihnen unsere kleine Gemeinschaft?, fragte ihn der Essayist und lachte leise, denn in diesem Moment war im hinteren Teil des Speisesaals einer der Schriftsteller ohnmächtig geworden oder hatte einen Anfall bekommen, und die beiden Angestellten bemühten sich, ihn wieder zu sich zu bringen. Archimboldi antwortete, es sei noch zu früh, sich eine Meinung zu bilden. Dann suchten sie sich einen leeren Tisch und füllten ihre Teller mit etwas, das an ein Püree aus Kartoffeln und Spinat erinnerte, kombiniert mit einem hartgekochten Ei und einem gebratenen Kalbsschnitzel. Dazu genehmigten sie sich ein Glas Wein aus der Region, einen zähflüssigen, erdig schmeckenden Tropfen.
    Im hinteren Teil des Speisesaals, neben dem ohnmächtig gewordenen Schriftsteller, hatten sich jetzt zwei junge Männer, beide ganz in Weiß, zu den beiden Angestellten und einem Kreis von fünf verschwundenen Schriftstellern gesellt, die der Wiederbelebung ihres Kollegen zuschauten. Nach dem Essen nahm der Essayist Archimboldi mit zur Rezeption, um seinen Aufenthalt im Haus ordnungsgemäß anzumelden, aber da niemand erschien, um sie zu bedienen, gingen sie in den Fernsehraum, wo mehrere verschwundene Schriftsteller im Halbschlaf vor einem Vortragsredner saßen, der über Mode sprach und über Liebesverhältnisse zwischen Berühmtheiten des französischen Kinos und Fernsehens, deren Namen Archimboldi fast alle zum ersten Mal hörte. Dann zeigte ihm der Essayist sein Schlafzimmer, einen nüchternen Raum mit schmalem Bett, Tisch und Stuhl, Fernseher, Schrank und kleinem Kühlschrank sowie einem Badezimmer mit Dusche.
    Das Fenster ging auf den Garten, in dem noch Lichter brannten. Ein Duft von Blumen und feuchtem Gras drang ins Zimmer. In der Ferne hörte er das Bellen eines Hundes. Der Essayist, der im Türrahmen stehen geblieben war, während Archimboldi sein neues Zimmer inspizierte, übergab ihm die Schlüssel mit der Versicherung, er werde hier zwar nicht das Glück finden, an das er ohnehin nicht glaube, aber zumindest Ruhe und Frieden. Anschließend ging Archimboldi mit ihm hinunter in sein Zimmer, das im Erdgeschoss lag und eine genaue Kopie des Zimmers zu sein schien, das man ihm zugewiesen hatte, weniger des Mobiliars oder des Zuschnitts als seiner Nüchternheit wegen. Man hätte wetten mögen, dachte Archimboldi, dass auch er gerade erst angekommen ist. Es gab keine Bücher, keine herumliegenden Kleidungsstücke, keinen Müll, keine persönlichen Gegenstände, nichts, wodurch sich das Zimmer von seinem unterschied, mit Ausnahme eines Apfels auf einem weißen Teller, der auf dem Nachttisch stand.
    Als würde er seine Gedanken lesen, sah der Essayist ihn an. Und sah verdutzt aus. Er weiß, was ich denke, und denkt jetzt das Gleiche wie ich und kann es nicht verstehen, genauso wenig, wie ich es verstehe, dachte Archimboldi. In Wirklichkeit sahen beide nicht verdutzt, sondern vor allem traurig aus. Aber da liegt der Apfel auf dem weißen Teller, dachte Archimboldi.
    »Dieser Apfel riecht nachts«, sagte der Essayist. »Wenn ich das Licht lösche. Er riecht so stark wie das Gedicht von den Vokalen. Aber letztlich versinkt alles«, sagte der Essayist. »Versinkt im Schmerz. Alle Eloquenz ist des Schmerzes.«
    Ich verstehe, sagte Archimboldi, obwohl er nichts verstand. Dann gaben sie einander die Hand, und der Essayist schloss die Tür. Da er noch nicht müde war (er schlief wenig, konnte manchmal jedoch sechzehn Stunden am Stück schlafen), unternahm Archimboldi einen Gang durch die verschiedenen Trakte des Hauses.
    Im Fernsehzimmer waren nur noch drei verschwundene Schriftsteller übrig geblieben, alle drei in tiefem Schlaf, dazu ein Mann im Fernsehen, den man offenbar gleich ermorden würde. Archimboldi schaute dem Film eine Weile lang zu, dann wurde es ihm zu langweilig und er ging hinüber in den jetzt leeren Speisesaal und weiter durch mehrere Flure, bis er in eine Art Sporthalle oder Massageraum kam, wo ein junger Typ in weißem Hemd und weißer Hose Gewichte stemmte, während er sich mit einem alten Mann im Schlafanzug unterhielt. Beide sahen ihn bei seinem Erscheinen aus dem Augenwinkel an und redeten dann weiter, als wäre er nicht vorhanden. Der Typ mit den Gewichten sah aus wie ein Hausangestellter, der Alte im Schlafanzug eher wie ein zu Recht vergessener als wie ein

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